Stadt Erfurt würdigt Thüringer Bildhauer Volkmar Kühn
Im Buga-Jahr Doppelausstellung im Haus Dacheröden und auf dem Petersberg
Auf dem unteren Petersberg werden seit Mai (offizielle Eröffnung am 23.6.) unter dem Titel „Moderne. Garten. Kunst.“ Großplastiken und Figurengruppen des bekannten Ostthüringer Künstlers Volkmar Kühn gezeigt. Im Kulturhaus Dacheröden gibt es eine Doppelausstellung mit seiner Frau Marita Kühn-Leihbecher, bei der seine Kleinplastiken auf ihre Papiercollagen treffen. Der Titel der Ausstellung lautet „Zur gleichen Stunde“.
Beide Expositionen können kostenfrei besichtigt werden. Die Freiluftschau ist bis Ende Oktober unterhalb der Bastion Kilian frei zugänglich. Die Ausstellung im Kulturhaus am Anger ist bis zum 14. August zu sehen. Die Öffnungszeiten: Mittwoch bis Freitag von 12 bis 17 Uhr und samstags von 10 bis 15 Uhr.
Laudatio zur Ausstellung „Zur gleichen Stunde“ von Michael Hametner, Kunstkritiker und Journalist aus Leipzig
Zur gleichen Stunde, in der Volkmar Kühn im Atelierhaus am Kloster Mildenfurth seine Bronzen entwirft, schöpft seine Frau Marita Papiere und formt sie zu nonverbaler Poesie. In der Kunst, die unter einem Dach entsteht, gibt es so schnell keinen größeren Kontrast: der Bronze-Bezwinger Volkmar Kühn und die Schöpferin feiner Papiere Marita Kühn-Leihbecher. Welch ein Spiel des Zufalls, dass beide seit dreißig Jahren ein Künstlerpaar sind. Dass sie zur gleichen Stunde eine nahezu diametral entgegengesetzte Kunstausübung betreiben, ist eine Erklärung für den Titel dieser Doppel-Ausstellung im Erfurter Kulturhaus Dacheröden.
Die Gewissheit, dass die Welt zur gleichen Stunde Tag hat und auf ihrer anderen Seite Nacht, dürfte die selbstverständlichste Bestätigung eines Weltzustands im Yin-und-Yang-Modus sein. Zur gleichen Stunde ist ein Weltgefühl! Dieser Zusammenhang zeigt sich im Werk beider Künstler.
Marita Kühn-Leihbecher liebt es meist abstrakt
So zeigt Marita Kühn eine Arbeit, die sie „Hautnah, AKW 11.03.2011“ genannt hat. Es ist das Datum der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima. Ein großer aufragender Turm, an seinem oberen Ende mit einer dunklen Blase, links und rechts ins Bild ragende spitze Dreiecke. Die Anmutung – trotz der Abstraktion – ist unzweifelhaft Gewalt und Zerstörung. Gleich daneben hat sie das Blatt „Zeichen“ gehängt. Eine stille Meditation: Dreieck, Kreis, Quadrat – es sind die drei Grundformen, mit denen die Welt nach der Katastrophe neu gebaut werden könnte. Beide Blätter bilden einen starken Kontrast. Das Eingehen der Künstlerin auf den Reaktorunfall von Fukushima stellt in ihrem Werk eine Ausnahme dar, meist ist ihre Abstraktion weniger auf ein Thema ausgerichtet. Es wechseln konstruktivistisch-nichtgegenständliche Motive und das Spiel mit Natur
Seit 1998 arbeitet Marita Kühn in der Technik des Papierschöpfens. Dahin gebracht hat sie die Teilnahme an einem Workshop zu dieser als Handwerk seltenen Technik. Sie hat sie für sich über die Jahre immer weiter vervollkommnet. Dadurch dass sie ihr Papier selbst schöpft, kann sie nahezu alles bestimmen: Oberfläche, Stärke, Transparenz, Farbe, Tiefenwirkung, Klang. Die weitgehende Abstraktion der Bildsprache fordert den Betrachter heraus. Als Interpreten werden wir quasi zu Mitgestaltern ihrer Kunst.
Kühns Kleinplastik ist „das Gedicht“, seine Großplastik „der Roman“
Zur gleichen Stunde, da die Papierkunst von Marita Kühn-Leihbecher entstanden ist, baut Volkmar Kühn im Nachbaratelier seine Plastiken. Erst in Gips, dann in Wachs und dann werden sie in einer Bronzegießerei in einem komplizierten Wachsausschmelzverfahren gegossen. Der Guss ist misslungen, wenn bestimmte Details – etwa die langfingrigen Hände seiner Figuren – fehlen oder nicht ausgeprägt genug sind. Dann beginnt alles von vorn. Der Bronzeguss ist ein mühsames, risikovolles Werden. Dennoch ist die Kleinplastik keine solche physische Herausforderung wie die große, die wir im Freibereich gerade auf dem unteren Petersberg in Erfurt sehen. In der Literatur würde man sagen: Die Kleinplastik ist das Gedicht, die lebensgroße Figur oder Figurengruppe der Roman. Ob Groß- oder Kleinplastik, eines bleibt sich gleich: Kühn bewegt sich wochenlang auf ein Thema zu. Das Thema gibt ihm die Zeit vor, der er Genosse ist: Zeit-Genosse. Es beginnt in ihm zu gären, ganz lange, bis er mit einem Mal die Form hat. Er tastet sich nicht mit Zeichnungen an die Form heran, sie wächst in der stillen Zwiesprache mit sich selbst.
Das Programm bei den kleinen Arbeiten ist dasselbe wie bei den großen: Kühn sucht nach dem Zeichen, dem Gleichnis. Für den letztendlichen Ausdruck zieht er das Doppeldeutige dem Eindeutigen vor. Dem Künstler genügt es, Fragen zu stellen, mit denen er uns bedrängt. Der Fragende versteht sich als Warner und Mahner. Aber er macht es als Künstler, in der Sprache des Materials. Er wendet dem realistischen Abbild nicht den Rücken zu, aber sein Blick fällt immer etwas von der Seite aus auf das Geschehen. Die typische Haltung eines Beobachters. Sie verschafft ihm Distanz, die er braucht, um den Ausdruck zu überhöhen: die überdehnten Hände, die spinnrigen Finger, der androgyne Körperbau, der seine Figuren manchmal Kindern ähnlich macht. Diese Art nenne ich Als-Ob-Realismus. Am Ende bewirkt sie, dass die Bronzefigur sich nicht schwer in den Boden drückt, sondern ein, zwei Handbreit darüber schwebt. Man stelle sich vor: Bronze, die schwebt. Das ist die Kunst von Volkmar Kühn.
Personengruppe symbolisiert Tierschutz
Eine neue Arbeit aus dem Jahr 2021 ist seine 23teilige Personengruppe mit dem Titel etwas sehr messianischen Titel „Dem Leben eine Zukunft geben“. Warum diese Ansammlung von lauter Menschen mit Tierköpfen, die – wie oft bei Kühn – vergoldet sind. Bei genauerem Blick erkennen wir, dass Tiere aller Erdteile vertreten sind. Was hat es mit den Tiermenschen auf sich? Ist es am Ende eine Demonstration für den Schutz dieser Tiere? Aber einer ist unter den Maskenträgern, der seinen Tierkopf nicht aufsetzen will, der aus der Reihe fällt. Die Handhaltungen aller Figuren unterscheiden sich. Man glaubt aufgeregtes Sprechen zu hören. Wie vor einer Demonstration ungewissen Ausgangs. Ich lege mich fest: Sie gilt dem Schutz der Tierarten. – Kühns Plastik vom Pferd, das eine Frau ohne Arme trägt und seine Schönheit mit seiner Reiterin teilt, nennt er „Paralympics“. – Die hoch auf dem Sockel stehende Figur mit überdehnten Beinen, vergrößerten Füßen erscheint wie ein Bruder der Figuren des Kollegen Alberto Giacomettis. Ihre ausgebreiteten Arme lassen fürchten, dass sie springen will. Unzweifelhaft eine Ikarus-Paraphrase. Ikarus gilt als Metapher für den Ungehorsam gegen Autoritäten, die oft in der Kunst der DDR benutzt wurde.
Bei Kühn ist es immer mehr als das Thema, was es zu würdigen gilt. Die lebensechte Wahrheit der Figur ist es: der in Sammlung und Konzentration gestraffte Körper, der gebeugte Kopf, der sich dem Tod bewusst scheint, die unsicher ins Leere tastenden Arme, als suchten sie den, der ihn zurückhält. Alles „nur“ Bronze und doch beschreibbare Zeichen des Lebendigen. Auch die Artisten: hoch in der Luft und zwar mit Glück, dass ihre Balance hält. Ein Spiel des Künstlers, der sich nicht nur im Weltschmerz ergeht. – Auf eine Linie hat er fünf Figuren gestellt, die sich zu einer Aktion zusammengefunden haben und auf den Betrachter zugehen. Eine unangenehme Situation, wenn man sie im Alltag erlebt. Bei Kühns Figurengruppe ruckeln und schubsen sie bereits unter sich, als wären sie sich gar nicht einig. Liegt Gewalt in der Luft oder strebt man zusammen zum Fußballstadion? Steht man zwar auf einer Linie, aber denkt und handelt nicht so? Diese Frage liegt bereits im Titel der Arbeit „Auf einer Linie“. – Kühn liebt das Ambivalente.
Bischöfe oben, gefährliche Tiermenschen unten
Zum Schluss meines Versuchs, Sie auf bestimmte Motive und Schönheiten der Kunstobjekte aufmerksam zu machen, betrachte ich das Objekt, das dieser Ausstellung den Titel gegeben hat: „Zur gleichen Stunde“. So heißt seine Doppelplastik, die oben vier Bischöfe zeigt, sitzend auf einer Bank mit weichem Kissen, und unten gehen zur gleichen Zeit vier Tiermenschen vorbei. Oben brüten die Kirchenmänner stumm vor sich hin und unten bereitet sich Gefährliches vor. Vielleicht auch nicht, aber Menschen, die sich hinter Masken verbergen, verbreiten immer Unsicherheit. Die Bischöfe ahnen nichts, sehen nichts, hören nichts. Während sie untätig dahocken, bereitet sich vielleicht Unrecht vor, gar Verbrechen, wird die Brüderlichkeit aufgehoben. – Kühn begnügt sich mit dem „Vielleicht“. Er schafft seine Formen nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Bauch. Das ist ein wichtiges Charakteristikum seines Werks, womit er uns nahe kommt und wir ihm.
Zur gleichen Stunde als Weltgefühl hat nur derjenige, der sich für diese, unsere Welt verantwortlich fühlt. Er weiß aus Lebenserfahrung, was alles zur gleichen Stunde stattfinden kann. Auch dies wieder ein ambivalenter Gedanke. Das einzelne Kunstwerk wird nie die Welt besser machen, aber alle Kunstwerke, die zur gleichen Stunde rund um den Globus entstehen, machen unsere Welt ein Stück schöner. Daran haben Volkmar Kühns Plastiken und die abstrakt-meditativen Grafiken von Marita Kühn-Leihbecher teil. Zur gleichen Stunde.