Ein Augenblick von Authentizität
Woche 17 (18. bis 24. August)
Jean-Pierre und Luc Dardenne
Eigentlich wollte ich in der Bibliothek zwei Filme von Ken Loach ausleihen, auf den ich durch eine Rezension gestoßen bin. Aber die DVDs stehen völlig durcheinander, und beim Suchen fällt mir stattdessen „L’enfant“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne in die Hände. Ich erinnere mich, vor Jahren mit D. „Der Sohn“ gesehen zu haben, und nehme aus einer Laune heraus mit, was ich von den Brüdern finden kann. Zuerst schaue ich „L’enfant“, dann „Der Junge mit dem Fahrrad“. Ich bin begeistert von der Konzentration der Bilder, berührt von der Geschichte und den Schauspielern. Besonders interessiert mich, wie Jean-Pierre und Luc Dardenne mit Informationen umgehen, was sie dem Zuschauer verraten und was nicht. In den Interviews im Bonusmaterial wirken sie ruhig, fast gelangweilt von den Fragen der Reporter, und auch das gefällt mir gut.
Authentizität
Beim Asia-Bubble-Tea-Imbiss in der Marktstraße erlebe ich einen Augenblick von Authentizität: Der Besitzer hat die alten Preise einfach durchgestrichen und die neuen Preise danebengekrakelt, als gäbe es keinen Grund, etwas zu verschleiern. Und auf demselben Schild, nur etwas weiter unten, finde ich wunderschönste Alltagspoesie: „Nicht geeignet für Kinder unter fünf Jahren, da diese unter Umständen nicht in der Lage sind, die Toppings sicher durch den Strohhalm aufzusaugen.“ Ich glaube, nur Menschen, die jeden Tag mit Sprache arbeiten, verstehen das Glück, das von solchen Sätzen ausgeht. Froh und satt gehe ich nach Hause.
Aufgeschnappte Gespräche 16
Nachts, vor dem Steinhaus, drei Mädchen Mitte zwanzig
„… und wenn du doch kirchlich heiratest …“
Attraktionsbecken
Auch nach fast vier Monaten sind noch neue Wörter in Erfurt zu finden. „Attraktionsbecken“ lese ich in der Roland-Matthes-Schwimmhalle, eine Bezeichnung, an der ich wochenlang vorbeigegangen bin. Zwischen Wort und Wirklichkeit besteht ein seltsamer Gegensatz: Attraktionsbecken, das lässt meterhohe Sprudel vermuten, Wasserfälle, Plastikbälle. Das Becken hat aber nur Unterwassermassagen zu bieten, ein paar Düsen, Spritzer. Wenn die Übertreibung nicht allgegenwärtig wäre, fände ich sie hier sogar sympathisch.
Abschiedsstimmung
Langsam macht sich Abschiedsstimmung breit. Zum letzten Mal gehe ich in den Waschsalon – und bekomme dort zum ersten Mal meinen Sojamilchkaffee ungefragt. Zum letzten Mal trinke ich einen Sonntagskaffee in der Zuckerdose, zum letzten Mal mache ich einen Großeinkauf bei Rewe. In Gedanken zähle ich die Orte auf, die ich unbedingt ein zweites Mal besuchen wollte: die Gedenkstätte Andreasstraße und das Forum Konkrete Kunst. Stattdessen lande ich am Sonntag schon wieder im Steigerwald. Am Abend, als ich „Andrej Rubljow“ von Andrei Tarkowski sehe, bleibt ein Satz in mir hängen: „Nehmen wir diese Birke. Seit zehn Jahren ging ich an ihr vorbei und sah sie nicht. Aber jetzt, wo ich weiß, es ist das letzte Mal, gewahre ich ihre Schönheit.“