Die Stadt unter der Stadt

01.07.2014 09:11

Ich entdecke ein Buch aus meiner Jugend wieder und lerne die Stadt aus einer neuen Perspektive kennen. In meiner Fantasie fällt alles in einen vorübergehenden Schlaf.

Woche 9 (23. bis 29. Juni)

Ein Fluß fließt unter verschiedenen Brücken. Düstere Situation.
Foto: Am Flutgraben unter der Trommsdorffstraße Foto: © Katharina Bendixen

Aufgeschnappte Gespräche 9

Abends, in der Trommsdorffstraße, ein Junge und ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt. Das Mädchen: „Weißt du, was ich dir schon immer sagen wollte? Ich hasse dich.“

Stillstand

Beim Spaziergang entlang der Wallanlagen entdecke ich einen neuen Ausdruck: Schlafende Ampel heißt es an der Pförtchenbrücke. Nur wenn jemand sie berührt, erwacht die Ampel zum Leben. Ich laufe weiter und stelle mir vor, was noch alles schlafen könnte, solange es niemand berührt. Springbrunnen. Anzeigen an Haltestellen. Ängstliche Mütter. Nach und nach kommt in mir die ganze Stadt zum Stillstand.

Wiederlesen

In welchem Alter fängt man eigentlich an, die Bücher seiner Jugend mit neuen Augen zu lesen? Beginnt das schon mit 33 oder bin ich zu früh dran? In der Bibliothek fällt mir „Der fremde Freund“ von Christoph Hein in die Hände. Der Roman stand auf unserem Deutschlehrplan, und ich glaube, außer mir haben es in meinem Deutschkurs nur zwei, drei Schüler wirklich gelesen. Damals habe ich das Buch verschlungen, anschließend „Horns Ende“ und „Der Tangospieler“. Jetzt genieße ich es wieder, bin aber erstaunt, fast erschrocken: Was hat mich als 18-Jährige an dieser abgeklärten Ärztin so fasziniert? Und wieso weiß ich das nicht mehr, ist mir dieses Mädchen von damals schon so fern?

Unter der Stadt

Noch nie habe ich an so einem ausgefallenen Ort wie bei der reliest-Party vom "hEFT" gelesen: Unter der Trommsdorffstraße rauscht der Flutgraben, an der Brücke prangen riesige Graffiti, und davor steht die improvisierte Bühne. Nach der Lesung gibt es Bier und Wein, aber schon ist es zu dunkel, um mehr als einen kleinen Abschnitt zu entdecken. Am nächsten Tag kehren D. und ich zurück und laufen den ganzen Flutgraben entlang. Erst jetzt, ohne die Aufregung der Lesung, gewinnt die Stadt unter der Stadt Konturen: Das Grün hier ist unberührt, die Häuser wirken höher und seltsam verzerrt, und wenn man die Augen schließt, könnte das Rauschen der Autos fast angenehm sein. Danke, Alexander, Thomas, Thomas und den vielen Helfern vom "hEFt"!

Offene Fragen 2

Warum werden im Kressepark heute Fische gezüchtet? (Oder habe ich die Kresse übersehen?) Weiß die Stadtverwaltung, dass sie Schwalben Unterschlupf gewährt? (Wahrscheinlich nicht.) Freuen die Erfurter sich auf das neue Viertel am Güterbahnhof, und wer wird dort wohnen? (Ich habe keine Vermutungen.) Und wann beginnt der Sommer?