Kleine Portionen
Woche 5 (26. Mai bis 1. Juni)
Wagner und Dischereit
Ich lese Erzählungen von Antje Wagner – eine meiner Vorgängerinnen – und Esther Dischereit. Eher durch Zufall sind die Bücher gleichzeitig bei mir gelandet, aber sie passen hervorragend zueinander. Beide Autorinnen schreiben klar, fast spröde über die Momente, in denen der Alltag plötzlich aufbricht und seine Grausamkeit offenbart. Jeden Abend dieselbe Entscheidung: welches der beiden Bücher nehme ich zur Hand?
Vertrautheit
Wann ist eine Stadt vertraut? Wenn man auf dem Weg zur Post zufällig Bekannte trifft? Wenn man die Post ohne Stadtplan findet? Wenn man das Haus ohne Stadtplan verlässt? Wenn man ein Stammcafé besitzt? Und wo ist der Punkt, an dem Vertrautheit in Enge umschlägt, in den Wunsch, weiterzuziehen? Bis dahin ist es bei mir weit, meistens habe ich den Stadtplan noch dabei.
Puppen
Zuletzt bin ich in Budapest im Puppentheater gewesen, Recherche für den Roman: ein Stück auf Ungarisch, umgeben von ungarischen Kindern. Erst irgendwann nach der Pause habe ich festgestellt, dass ich offenbar Der gestiefelte Kater sehe. Das Theater Waidspeicher macht es mir leichter: Es läuft Menschen im Hotel, natürlich auf Deutsch. Am besten gefällt mir Herr Kringelein mit seinen roten Augen. Und die Freiheit, die die Puppen ihren Spielern lassen – und die Spieler den Puppen. Beim Schlussapplaus sitzt der kranke Dr. Otternschlag noch auf der Bühne. Einen Moment wundere ich mich, dass die Puppe nicht aufsteht, sich nicht mit verbeugt.
Aufgeschnappte Gespräche 5
Nachmittags, Am Güterbahnhof, auf dem Weg zum Hafenmarkt, zwei junge Leute um die zwanzig
„… ich bin ja als Erfurterin vor sechs Wochen zum ersten Mal im Dom gewesen …“
Himmelfahrt
Schon morgens neun Uhr trinken Jungs in der Straßenbahn Bier. Jeder dritte Mann trägt einen Sonnenhut, jeder vierte bläst in eine Tröte. In meiner Kindheit, als man diesen Tag noch Vatertag nannte, hat es nicht ohne Unterlass geregnet.
Stadtrundgänge
Bei jedem Spaziergang passiere ich mindestens einen geführten Stadtrundgang, an Wochenenden vier oder fünf. Die Stadtführer tragen Prinzessinnenkleider oder Nachtwächterklamotten. Seit meiner Ankunft überlege ich, auch einen solchen Rundgang zu buchen. Aber dann stelle ich fest: Das brauche ich nicht. Denn jedes Mal schnappe ich etwas anderes auf, heute zum Beispiel: „Man kann also sagen, dass die Wiege von Fleurop in Erfurt steht.“ So fügt sich mein persönlicher Stadtrundgang zusammen, in kleinen Portionen, über vier Monate.