26. Etappe der Tour de Bildung: Erfurter Kolleg
Textreportage
Hörsaal 6 ist prall gefüllt, kaum ein Platz bleibt leer. Eine Viertelstunde haben wir noch bevor die Vorlesung beginnt. Die ungewohnte allgemeine Pünktlichkeit hat einen einfachen Grund: Die Hörerschaft ist über sechzig. Jeden Freitag zwischen zehn und zwölf bietet die Universität Erfurt unter dem Namen "Erfurter Kolleg" Lehrveranstaltungen für Seniorinnen und Senioren an. Das heutige Thema hielten wir für besonders geeignet, die vielfältigen Betätigungsmöglichkeiten für ältere Menschen darzustellen: "Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft." Doch werden wir eines Besseren belehrt.
"Eine privilegierte und materiell gut ausgestattete Minderheit gut gebildeter Seniorinnen und Senioren wird zum Maßstab einer allgemein anerkannten Altersaktivität erkoren. Das ist ein Maßstab, den die mit weniger ökonomischem und kulturellem Kapital ausgestatteten Alten nur verfehlen können", führt Referentin Dr. Silke van Dyk aus. Mit anderen Worten: Wer gesund und aktiv altern will, muss es sich leisten können. Schlimmer noch: Das aktive Alter werde von der Politik zur Norm erhoben, um Sozialleistungen zu sparen. Wer nicht mitmacht werde sozial geächtet. Der Soziologin von der Universität Jena geht es dabei nicht darum, Altersaktivität an sich zu kritisieren, sondern eine politische Tendenz der letzten Jahrzehnte aufzuzeigen, wie sie betont.
Nach dem Vortrag entspinnt sich eine lebhafte Debatte über die Rolle des Alters in der heutigen Gesellschaft. Im Auditorium sitzt auch der Vorruheständler Günter Guttsche. "Das war für mich eine der interessantesten Veranstaltungen bis jetzt. Besonders die Klarheit der Referentin und die anschließende Diskussion haben mich beeindruckt." Neben Vereinsarbeit, Enkelkindern, Sauna, Schwimmen und Fitness-Studio besucht der 65-Jährige regelmäßig die Veranstaltungen des Erfurter Kollegs. "Ich habe die Empfehlung von Freunden bekommen und mich anschließend im Internet informiert. Seitdem komme ich regelmäßig."
Termin bei Dr. Sigrid Heinecke im Uni-Hochhaus. Als Geschäftsführerin der "Erfurt School of Education" – einer Art Institut für Lehrerbildung – ist sie auch für das Erfurter Kolleg verantwortlich. "Seit Einführung der Reihe sind wir mittlerweile im 16. Semester. Im Schnitt sind 140 Hörer eingeschrieben", lässt sie uns wissen. Die Universität bietet das Seniorenkolleg in Zusammenarbeit mit der Universitätsgesellschaft an, die sich als Bindeglied zwischen Stadt und Hochschule versteht. Zwei große Themen stehen jedes Semester im Mittelpunkt. "Die aktuellen Reihen heißen 'Kunst(T)räume' bzw. 'Lebens(T)räume'. Entlang dieser roten Fäden versuchen wir, Wissen aus ganz unterschiedlichen Bereichen auf akademischem Niveau zu vermitteln."
So lesen sich auch die Titel der einzelnen Veranstaltungen: "Der Einfluss der Fotografie auf die bildende Kunst", "Christentum als wahre Philosophie?", "Himmel und Hölle in der Bilderwelt des Mittelalters" oder etwa "Die Gefährdung der Demokratie durch extremistische Gruppierungen." Insgesamt vierzehn Veranstaltungen weist die Begleitbroschüre aus. "Welche Themen ausgewählt werden, entscheidet zum einen der Beirat, der sich aus Seniorinnen und Senioren zusammensetzt, die schon sehr lange das Erfurter Kolleg besuchen. Zum anderen fragen wir zum Ende jedes Semesters Wünsche und Vorschläge ab. Und nicht zuletzt müssen wir auch berücksichtigen, was personell möglich ist", erläutert Sigrid Heinecke.
Ich merke an, dass bei den Veranstaltungen des Erfurter Kollegs das akademische Viertel offensichtlich außer Kraft gesetzt ist. Sigrid Heinecke pflichtet mir bei. Pünktlicher als die meisten Studierenden seien die Seniorinnen und Senioren. "Außerdem sind sie sehr aufmerksam und stellen hochwertige Fragen. Davon sind selbst manche Dozenten überrascht."
Andreas Kubitza
08.01.2013