Erfurter Notizen 4
Von Tom Schulz
Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Dies könnte ein gutes Motto für diese Stadt sein. Es wimmelt von Straßenmusikern, die uns hier Ansässige bespaßen und bedudeln, oder besser gesagt die Touristen um einen oder zwei Euro erleichtern wollen. Nicht jedes Lied hat einen Text oder Refrain, es gibt auch Mozarts Kleine Nachtmusik und Vivaldis Jahreszeiten, Flöten und andere Blasinstrumente, Blech und Didgeridoo. Manches geht einem durch Mark und Bein, aber man kann weiterlaufen, bis man an der nächsten Ecke auf die traurigen Balkan-Folkloristen trifft. Auch Neil Young tritt manchmal mit seinem „Herz aus Gold“ an der Michaelisstraße auf, wohl gemeint eine seiner müden Kopien. Wenn man wie ich in der Innenstadt, nah am Benediktsplatz wohnt, hört man alle fünfzehn Minuten dasselbe Stück. Die Fenster schließen? Wenn man schwerhörig wäre? Es geht bis etwa 22 Uhr, dann herrscht Stille. Der Tag ist aus, die Lichter leuchten. Kabeljau und Frosch schwimmen nach Haus. Die Straßenmusiker haben ihr Geld verdient, morgen kommen sie wieder.
Erfurt ist eine lebendige Stadt an manchen Tagen, doch nicht alles was gefällt, erfreut auch jeden; nicht jeder Ton wird richtig getroffen, aber kommt es darauf an? Wir wollen den Feierabend und das Wochenende genießen, wir wollen rund um die Uhr konsumieren. Wir wollen feiern, fettig essen und verdauen, ist das verkehrt?
Es gibt andere Orte, andere Stadtmusik. Das „Hackebeil“ beim AJZ, eine ehemalige Fleischerei. Es gibt Soli und Benefiz. Punk und Geflüchtete, die sich hier wohl fühlen können. Man kann kickern und Mate oder Bier trinken. Alle sind gleich, niemand ist gleicher. Die Leute reden miteinander, verstehen sich in allen möglichen Sprachen. Ein betrunkener Mann, der Bertram heißt, und früher Boxer war, will mich umarmen. Die Musik ist laut und direkt, zwei Bands spielen an diesem späten Abend, an den Mikrofonen zwei Sängerinnen, die ihre Wahrheiten und Antworten herausschreien. Das „Hackebeil“ ist gut gefüllt, die Stimmung, obwohl die Musik hart und direkt auf den Punkt zielt, nicht aggressiv. Auf den wunden Punkt unserer Gesellschaft, die auch aus Lügen, Korruption, Ausbeutung und Ungerechtigkeit besteht. Etwas, das wir nicht sehen, nicht einsehen, nicht verstehen wollen. Wir anderen, braven Bürger, Spießgesellen. Warum heißt die Krämerbrücke ausgerechnet Krämerbrücke? Wäre dies die Eine-Million-Euro-Frage, wer wüsste die Antwort?
„Ach, wenn sie nur Herzen hätten! Herzen in der Brust, und Liebe“ – dichtete einst Heinrich Heine. Und weiter: „Auf die Berge will ich steigen, wo die dunklen Tannen ragen…“ – nicht lachend über euch, doch ernst und heiter.