Erfurt – eine Schatzinsel: Von Luo Lingyuan
In der kurzen Zeit habe ich so viele schöne Überraschungen erlebt, dass ich nur sagen kann: Erfurt ist eine Schatzinsel. Die historischen Plätze und Bauten, vor allem aber die gastfreundlichen, fleißig arbeitenden Menschen machen diese Stadt schön, reich, lebendig und lebenswert. Ich habe gern hier gewohnt und gearbeitet.
Der Petersberg ist ein architektonisches Meisterwerk, das mich immer wieder zu einem Spaziergang lockt. Alle Berliner Besucher habe ich dort hingeführt. Leider sind einige große Häuser noch nicht renoviert und stehen mit zugenagelten Fenstern da. So kommt mir der Berg wie ein in der Sonne schlafender Riese vor. Auf seinem runden Bauch stehend, schaue ich über die Stadt mit ihren Dächern und Kirchtürmen und genieße den Panoramablick hinüber zum Steiger, der wie ein grüner Schutzwall hinter den Häusern steht. Zweimal habe ich mich in diesen Wäldern verirrt. Es ist ein Trost zu hören, dass auch langjährige Erfurter sich manchmal darin verlaufen.
Doch der Petersberg hat noch viel mehr zu bieten. Die Horchgänge tief unter der Erde machen ihn sehr geheimnisvoll. Es ist, als wäre eine unterirdische Stadt in seinen Eingeweiden verborgen. Nirgendwo sonst habe ich so etwas gesehen.
Die mittelalterliche Innenstadt ist eine Schönheit ganz anderer Art. Wie ein geschmückter Gürtel mit fein gearbeiteten Schnallen schließen die Krämerbrücke, die Gera und die umgebenden Plätze und Fachwerkhäuser sich um die schlanke Taille der Stadt. Hier findet man nicht nur Gaumen- und Augengenüsse, auch die Ohren haben stets ihre Freude. Denn die Straßenmusiker kommen wie Bienen geflogen und geben ein Konzert nach dem anderen. Ein vierköpfiges Orchester ist keine Seltenheit. Und sie spielen nicht schlecht! Ich bleibe oft stehen und lausche. Besonders klassische Musik passt gut zu den alten Straßen und Gassen.
Die Gera liebe ich besonders. Ich bin am Jinjiang-Fluss, der in meiner Heimatstadt über 150 Meter breit ist, aufgewachsen. Viele meine Kindheitserinnerungen sind mit Wasser verbunden. In heißen Sommern saßen wir als Kinder gern abends auf der Pontonbrücke und aßen ein Eis, um die kühlende Brise am Fluss zu genießen. Am Sonntag, nach dem großen Wäschewaschen für die ganze Familie, bin ich oft lange im seichten Wasser herumgewatet, um kleine Fische oder Schildkröten in meinen Händen zu fangen. Erfolg hatte ich selten, aber ich wurde des Abenteuers nie müde. Fast jedes Jahr gab es ein Hochwasser, dann sahen wir wortlos zu, wie der Fluss Möbel, Balken oder ertrunkene Schweine davontrug. Der Fluss ist mir unvergesslich, und ich habe oft von ihm geträumt, von Wasserschlagen und treibenden Holzflößen.
Im Berlin habe ich keinen solchen Fluss in der Nähe und habe das rasche Wasser vermisst. Umso mehr habe ich mich gefreut, in Erfurt jeden Tag am Ufer der Gera sitzen zu können. Die im Schatten stehenden Forellen, die gemütlich herumpaddelnden Entenfamilien, die am Ufer lauernden Katzen und Reiher, die zahlreichen Parkanlagen am Wasser und die Fahrradwege entlang der Gera habe ich sehr geliebt. Und dass der Fluss beinahe täglich gereinigt wird, weiß ich zu schätzen.
Natürlich pflegt die Stadt nicht nur ihre Natur, sondern auch ihr historisches Erbe, ihre Häuser und ihre Gassen. Das ist nicht zu übersehen. Menschen, die ihre Stadt lieben und mit viel Aufwand jeden Tag aufs Neue herausputzen, machen sie lebens- und begehrenswert. Es ist ein Glück und eine Ehre für mich gewesen, Erfurt als Stadtschreiberin hautnah erleben und einige meiner Eindrücke wiedergeben zu dürfen. Herzlichen Dank für eine schöne, unvergessliche Zeit!