Verrückt nach Eis – Von Luo Lingyuan
Jeden Tag tragen die Erfurter mit ihren Zungen die Eisberge ab. Bella Italia triumphiert! Ich versuche mir vorzustellen, was die Erfurter in meiner Heimat tun würden. Ich leihe mir einen Zauberstab, tunke ihn um Mitternacht in die Gera und sage mit fest zugekniffenen Augen: „Hocus pocus chinosus …“
Es zischt und donnert in meinen Ohren. Als ich die Augen aufmache, torkele ich vor Freude: Huha, fünfhundert Erfurter sind mit mir im alten China gelandet, als die Nahrungsmittel alle noch bio waren. Es duftet so schön auf der Straße: Gedämpfte Brötchen mit allerlei Füllungen, frischgepresster Zuckerrohr- oder Melonensaft, Malz oder Süßkartoffeln direkt vom Bauern, im Bambusblätter eingewickelte Reisklöße, Duft-Eier, getrocknete Früchte, geschlagene Reiskuchen, goldenes Kürbisgebäck, papierdünner Blätterteig, süß oder salzig bestrichen, gegrillte Lamm- oder Toufuspieße, gekühltes Pflaumenwasser … Die Erfurter müssten nur einmal die Straße hinunterlaufen, der Rest wird ganz von allein kommen.
Ich hole mir eine geröstete Süßkartoffel und eine halbe Melone, setze mich in einen Ginkgobaumwipfel und träume. Ich sehe schon vor mir, wie die chinesischen Leckerbissen die ganze Erfurter Altstadt erobern. Aber ich bin noch nicht mal zur Hälfte mit meiner süßen Kartoffel fertig, da klopft eine Frau an den Baumstamm. „Hallo“, ruft sie zu mir hinauf. „Hören Sie auf! Wir sind solche Düfte nicht mehr gewöhnt. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter!“
Tatsächlich, ich kenne die Dame! Ich erinnere mich, dass ich sie an der Gera kennengelernt habe. Sie hat mir erzählt, dass alle Gerber und Färber aus der Stadt wegziehen mussten, „wegen der Emissionen“. Gerüche sind unerwünscht in der Stadt. Das gilt wohl auch für die Düfte der Küche. Wie schade! Jetzt wird mir klar, worin der größte Vorteil der kalten Genüsse besteht: Sie haben keinen Geruch. Im kleinsten Winkel der Stadt lässt sich eine Eisdiele einrichten, und niemand beschwert sich.
Da kommt auch schon meine Freundin Marlies. „Schmeckt alles wahnsinnig lecker“, sagt sie. „Jetzt brauche ich nur noch ein Eis.“
Sie nimmt mir den Zauberstab aus der Hand. „Hokus pokus“, und schon stehen wir auf der Krämerbrücke. „Zweimal Frühlingsbecher mit salzigem Karamell, bitte!“