Sandra vom Domplatz – Von Luo Lingyuan
Gemäß meinem Wahlspruch: „Wo die Schlangen am längsten sind, ist auch die Ware am besten“, stelle ich mich beim Wagen der Fleischerei H. an. Vor mir stehen schon zwölf andere Kunden und jeder hat mindestens fünf Wünsche auf seiner Kaufliste. Manche kaufen sogar acht oder neun Sachen ein und müssen ganz schön schleppen, wenn sie davonziehen. Die zwei Verkäuferinnen müssen sich tummeln.
Die Kunden sind alle sehr bodenständig. Ich bin wohl der einzige Fremdling. Ich passe genau auf, was die anderen kaufen und als ich dran bin, geht es zur Sache: Ich verlange nach Knackwurst, geräucherten Rippen, ein bisschen Presskopf, ein bisschen Blase mit Sülze und Blutwurst. Die Herrlichkeiten sehen wie braune und schwarze Handgranaten aus und sind in meinem Kiez in Berlin nicht zu kriegen. Die hübsche junge Verkäuferin lässt ihre Hände schnell zwischen Theke und Waage tanzen und reicht mir die Waren mit einem Lächeln herüber. Sie erinnert mich lebhaft an eine Sonnenblume. Auf dem Kassenbon steht, dass sie Sandra heißt. Gerade als ich gehen will, sehe ich noch etwas in der Theke.
„Na, was vergessen?“, fragt Sandra, während sie schon die nächste Kundin bedient.
„Nee, aber ich habe was Neues entdeckt.“
„Was entdeckt? Meinen Sie Eisbein?“, lacht Sandra. Ich habe wohl den Eindruck einer gewaltigen Fleischfresserin hinterlassen.
„Vielleicht beim nächsten Mal“, sage ich und warte, bis sie mich wieder drannimmt. Dann zeige ich auf die Theke. „Ich hätte gerne den Fleischknochen da.“ So etwas kriege ich nämlich in Berlin auch nicht.
Sie legt das Stück auf die Waage, redet kurz mit ihrer älteren Kollegin und verlangt 90 Cent. Ich traue meinen Ohren nicht. In China sind Knochen begehrt und (im Verhältnis) viel teurer.
Zu Hause koche ich mir eine Knochensuppe mit chinesischen Duftpilzen. Das Fleisch ist frisch und zart. Es schmeckt mir so gut, dass ich ein paar Tage später wieder vor Sandra stehe. Diesmal hat sie keinen Knochen da, aber sie trennt extra zwei Filets vom Knochen, damit ich was für meine Suppe habe. Diesmal wird daraus eine Rettichsuppe, die zwei Tage vorhält. Und Sandras Sonnenlächeln ist immer dabei.
Bald kaufe ich mehr Sachen auf dem Markt: Stracke, Fisch, Salat, Brot, Kuchen … Schmeckt mir eine Sache, kann ich schlecht aufhören und esse schnell mal zwei Bissen mehr. Und das ist dann die Kehrseite dieser Medaille: Es wird sehr schwer sein, in Erfurt mein Gewicht zu halten oder gar abzunehmen, und die Waage ist in Berlin geblieben. Ich muss beim nächsten Mal wohl mit einer Shortlist zu meiner Knochenkönigin Sandra gehen.