Ich habe ein neues Fahrrad! – Von Luo Lingyuan
Es ist ein ziemlich kalter Frühlingstag. Die Sonne strahlt auf die kleinen Triebe der Bäume und lässt sie schimmern wie eine zartgrüne Wolke. Viele Leute sind unterwegs, Familien mit und ohne Picknickkorb, junge und alte Paare Hand in Hand. Der deutsche Osterspaziergang – ein echtes Kulturerbe. Auch eine Vietnamesin mit ihren zwei kleinen Kindern hat sich dem Zug angeschlossen.
Oben angelangt, gibt es allerdings keine besondere Aussicht. Dafür eine Tafel unter den Bäumen, auf der fünf Grabhügel gekennzeichnet sind. Das kommt mir vertraut vor. Ich denke an die Kaisergräber in China. Auch die Urne mit der Asche meines Vaters ruht auf einem sonnigen Hügel inmitten der Reisfelder. Wenn ich beim alljährlichen Besuch bei meiner Familie genügend Zeit habe, fahre ich einen ganzen Tag lang mit dem Bus, übernachte bei einem Cousin und verbrenne Räucherstäbchen und Totengeld am Grab meines Vaters, damit es ihm gut geht im Jenseits.
Aber hier im Steigerwald kann ich keine Grabsteine und Grabhügel finden. Der Wald hat alles überwuchert.
Ich wandere Richtung Westen (glaube ich), bis ich an den Waldrand stoße. Beim Anblick der ersten Häuser wende ich mich auf einem asphaltierten Weg nach Südosten. Irgendwann stoße ich auf einen runden Platz, der mit einem „Stern“-Schild gekennzeichnet ist. Aha, endlich habe ich eine Stelle gefunden, die auf meinem Plan steht. Ein kleiner, hübscher Platz, aber zu viel Verkehr, um länger zu bleiben.
Unter dem „Stern“-Schild sehe ich Wegweiser. Auf einem steht „Fuchsfarm“, ein Naturerlebnisgarten wird versprochen. Ich folge dem Schild, aber an der zweiten Gabelung suche ich vergeblich nach einem weiteren Wegweiser. Was nun? Beide Pfade vor mir sind schmal und krumm. Ich nehme den linken und finde einen Teich für Insekten. Aber bei dieser Kälte schwirrt nicht mal eine Fliege herum. Dafür macht eine Familie Picknick am Teichrand.
Am anderen Ende des Gewässers geht der Weg weiter. Ich folge ihm und stoße auf eine Buche mit einem mächtigen Auswuchs. Ich weiß, dass es eine Krankheit ist, Baumkrebs, hervorgerufen von Viren oder auch Pilzen. Aber der riesige Auswuchs sieht irgendwie magisch aus. Wie ein großes Gehirn, wie ein übermächtiger Dämon. Das ist der Waldprophet, denke ich und wage nicht, den rissigen Stamm zu berühren.
Der Weg führt bergab. Von hohen Hügeln umgeben, sieht es immer weniger nach Erfolg aus. Ich schaue auf meine Armbanduhr. Ich hätte nicht so tief in den Wald gehen sollen. Die Arbeit ruft. Ich drehe um. Nun stoße ich auf einen Teich für Frösche und Kaulquappen. Es quakt tatsächlich, und mehrere Menschen sitzen und stehen am Wasser herum. Ich überquere die Landstraße und schlage die Richtung zur Stadt ein.
Aber plötzlich ist es ganz still um mich, und der Pfad führt noch immer bergabwärts, bis der Abhang rechts von mir unüberwindlich erscheint. Zweifel beschleichen mich. Die Sonne ist hinter den Wolken verschwunden. Wo Norden, Süden und Westen sind, kann ich unter den hohen Bäumen nicht sehen. An der nächsten Kreuzung biege ich scharf nach links und stoße auf einen breiten Waldweg. Endlich geht es wieder bergauf.
Eine Gruppe Wanderer kommen mir entgegen. Vorne drei ältere Frauen in einer Reihe, hinten drei flotte Herren im tiefen Gespräch. „Guten Tag. Wissen Sie, wo Erfurt liegt?“
„Haben Sie sich verlaufen?“, sagt eine der Frauen voll Mitleid. Ich nicke. Es ist mir peinlich. Wenn das meine Mutter wüsste. Die Frau mit der weißen Jacke zeigt mir die Richtung. „Es ist ganz einfach.“
„Wenn Sie nicht zurechtkommen, rufen Sie einfach an!“, sagt einer der Männer. Inzwischen stehen sie alle um mich herum.
„Ja, eins eins null“, sage ich. Lachend gehen wir auseinander.
Ich wandere bergauf. Links unter den Bäumen sind Hunderte von weißen Blüten zu sehen, sie wiegen sich wie Sterne in einem grünen Bett, wenn der Wind durch die gefiederten Blätter fährt.
Endlich erreiche ich den Gipfel. Vor mir erstrecken sich grüne Felder. Am Horizont zwei lila Hügelkämme wie zwei Drachenrücken. Der Anblick entschädigt mich für meine Mühe.
Nun trete ich entschieden den Heimweg an. Nach langem Marsch erreiche ich eine Kreuzung, aber einen Wegweiser finde ich nicht. Es ist kurz nach vier. Wo sind all die Osterausflügler geblieben?
Ich stolpere und schwitze. Endlich sehe ich Häuser, dann meine Rettung: Ein älterer Herr und eine hübsche Frau im mittleren Alter schlendern seelenruhig daher. Die Frau hat ein paar blaue Blümchen gepflückt.
„Entschuldigung. Wie komme ich nach Erfurt?“, frage ich keuchend.
Die Frau zeigt mir die Richtung. Der Mann sagt: „Schneewittchen hat sich im Wald verlaufen, was?“
Eher Rotkäppchen, denke ich. Oder Hänsel und Gretel. Trotzdem lache ich tapfer: „Der Wald ist ja heutzutage nicht mehr gefährlich.“
„Na ja, wenn es dunkel wird, ist er schon unheimlich“, sagt die Frau und schaut mich besorgt an.
„Es gibt so wenige Wegweiser“, sage ich. „Wie kommen Sie denn zurecht?“
„Ich bin Erfurter“, sagt der Mann mit der Sicherheit, mit der man Nägel in dicke Bretter schlägt. Er zeigt mir die Richtung, dann trennen unsere Wege. Mein Fahrrad kann nicht mehr weit sein, aber ohne Sonne wird es im Wald schnell dunkel.
Inzwischen habe ich fast zu rennen begonnen, ich überquere die Martin-Anderson-Nexö-Straße. Aber das ist der falsche Dichter. Wo ist die Eichendorffstraße? Unter einer Laterne entfalte ich meinen Stadtplan. Eine Frau mit Mann und zwei Jungen geht an mir vorbei.
„Guten Tag“, sagt die Frau.
„Guten Tag“, sage ich, deutlich weniger schwungvoll als sie. Die Frau bleibt neben mir stehen. „Kann ich helfen?“
„Ja. Ich suche die Kasinostraße.“
„Die ist hier“, sagt sie und zeigt auf einen Weg, der nur ein paar Meter entfernt ist und sich steil bergauf schlängelt.
„Nicht schon wieder in den Wald“, sage ich mutlos.
„Wo wollen Sie denn genau hin?“
„Eigentlich will ich zur Eichendorffstraße.“
„Dann laufen Sie da runter, bis Sie auf die Chamissostraße stoßen. Da biegen Sie links ab.“
„Danke!“, sage ich und jubele innerlich vor Erleichterung. Adelbert von Chamisso ist ein alter Freund. Er liegt in Kreuzberg begraben, keine fünfhundert Meter von meiner Wohnung entfernt. Und im Sommer sitze ich beim Schreiben gern auf dem Chamissoplatz in der Sonne. Chamisso ist der Beschützer der deutschen Autoren, die Deutsch nicht als Muttersprache gelernt haben. Er wird mich heil nach Hause bringen.
Eine Viertelstunde später finde ich tatsächlich mein Fahrrad wieder, und kurz vor sechs stehe ich schwer atmend in meiner Wohnung. Ich bin über vier Stunden im „Steiger“ herumgeirrt.
An Arbeit ist heute nicht mehr zu denken. Als ich mit geschlossenen Augen ins Bett falle, sage ich zu mir: Von dem, was ich gesucht habe, habe ich nichts gefunden. Aber was ich gefunden habe, war schön. War das jetzt ein chinesischer oder ein deutscher Gedanke?