Ballade für Erfurt – Von Luo Lingyuan
Und dann, mitten im Winter tatsächlich das große Glück: Der Kulturdirektor der Stadt Erfurt, ruft an und sagt, dass ich den Erfurter Stadtschreiber-Literaturpreis 2017 erhalten werde. Mein Herz geht auf. Ich möchte gleich am Telefon lossingen: Der Mond am fünfzehnten. Das ist ein Liebeslied, das ich aus meiner Kindheit kenne. Ich beginne schon, meine Zunge zu lockern, da sagt der gestrenge Herr Knoblich „Sie sind unsere siebte Stadtschreiberin.“ Und dann folgt ein Satz, der mich noch lange beschäftigen wird: „Wir dürfen doch Texte über Erfurt von Ihnen erwarten? Nicht wahr?“ Ich höre ein schelmisches, schmeichelndes Lächeln in dieser Frage, das mich sofort bezaubert.
„Ja, ja, ich werde schreiben“, sage ich pflichtbewusst und füge hinzu: „Ich reise und schreibe gern.“ Was nun wirklich kein bisschen gelogen ist.
Und jetzt sitze ich hier beim schönsten Frühlingswetter in meiner Erfurter „Dienstwohnung“ und schaue hinaus durch die kleinen Mansardenfenster: zwei nach Osten, eins nach Süden, eins nach Westen. Und überall scheint die Sonne herein. Da soll man zu Haus sitzen? Es zieht mich hinaus auf die Gassen und Plätze. An die plätschernde Gera, zur Krämerbrücke, zu den fleißigen Einwohnern und den vielen vergnügten Touristen…
In meiner Kindheit lebte ich in China in einer kleinen Stadt auf einem Berg. Ich wurde vom Zwitschern der Vögel und vom Krähen der Hähne geweckt. Jeden Morgen ging ich als erstes ans Fenster und warf einen Blick auf den breiten Jinjiang-Fluss. Ich wollte immer wissen, was der Riese macht.
Hier in Erfurt tue ich das Gleiche. Kaum bin ich auf den Beinen, öffne ich die Fenster und schaue hinaus. Mehrere Kirchtürme schimmern grauweiß oder dunkel um mich herum. Die roten Dächer der Nachbarhäuser sind so nah, als könnte ich sie mit den Händen berühren. Die Straßenbahn fährt leise wie ein leuchtender Drache zwischen den Häusern vorbei. Dann ertönt lauter Glockenschall und ruft mich zur Arbeit. Später merke ich, dass sie mich auch zum Schlafengehen ermahnt. Mittelalter mit Glocken und Straßenbahn.
Als ich am Samstag zum Einkaufen über den Fischmarkt gehe, habe ich eine Vision: Ein stämmiger Mann im braunen Mönchsgewand hat einige Zuhörer um sich geschart und hält eine Predigt. Martin Luther persönlich? Nein, doch nicht. Er redet ganz friedlich und zeigt zu den Häusern hinauf. Das muss wohl der Stadtführer sein. Aus meiner Entfernung kann ich nicht hören, was er sagt. Aber er sieht mit seinem runden Leib und seinem Holzstock so überzeugend aus … Herrjeh! Ich war doch selbst vier Jahre lang Reiseleiterin. Ich habe sogar einen Roman darüber geschrieben („Die chinesische Delegation“, München 2007). Aber dieser Mönch geht mir nicht aus dem Sinn. Es gibt eine Menge Geheimnisse in dieser Stadt.
(Fortsetzung folgt nächste Woche)