Kai Uwe Schierz: Ein Wort fiel vom Baum der Erkenntnis
Ohne Differenz ist kein Denken denkbar...
„Deus est intelligere“ (Gott ist der Geist)
Im Altgriechischen bezeichnet der Begriff ‚Lógos’ den ‚Geist’ ebenso wie das ‚Wort’; aber auch ‚Sprache’ und ‚Vernunft’ wären Übersetzungen, für die der Lehrer seine Eleven loben würde. Man kann also den Eingangssatz des Johannesevangeliums „En arche en ho lógos“ (Joh 1,1) auch so lesen: Im Anfang war der Geist. Der Satz war wortwörtlich gemeint; er war einer der Lieblingssätze des Eckhart von Hochheim, Dominikaner und Doktor der Theologie, als Meister Eckhart nicht nur in Erfurt ein Fakt der Geschichte, ein Quell für Geschichten. Eckhart und seine Mitstreiter nahmen sich zu Ende des 13. Jahrhunderts viel Zeit, um über diesen ersten Satz Joh 1,1 nachzudenken. Einer kam zu dem Schluss, ihn so zu deuten: „Deus est intellectus“ (Gott ist der Geist); ein anderer variierte das vorgedachte und ausgesprochene Wort und setzte ein „Deus est intelligere“ (Gott ist das Denken/ Gott ist im Vorgang des Denkens) in die Runde. Ein faszinierender Satz; nicht der erste und nicht der letzte, der zu Joh. 1,1 gefallen ist.
Auch die logische Umkehrung ist spannend: Danach wäre überall dort, wo nicht gedacht wird, auch Gott nicht. Denken wir eigentlich nur in Worten oder auch in Bildern? Wie viele Worte brauchen wir zum Denken? Und wenn wir das erste Wort Joh 1,1 wortwörtlich nehmen würden, wie wäre das? Was würden wir dann denken, erdenken? Vielleicht eine Welt, die genau in dem Augenblick entstand (und seitdem immer noch entsteht), in dem der göttliche Logos begann, sich zu äußern, sich zu entäußern, zu veräußerlichen, aus sich heraus zu treten – hochenergetisch und superheiß, in alle Richtungen zugleich?
„Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“
Big Bang! Nur im Anfang, nur ganz im Anfang wäre alles noch ununterschieden er selbst. Sowie sich der Geist jedoch ausdehnte überall hin und zeitlich würde, verwandelte sich seine Wärme sukzessive in Wegstrecke, in Raum, der (logo!) mit fortschreitender Zeit größer und immer kälter würde. Er verklumpte zu Atomen, würde different – das Eine hier, das Andere da –; er würde divers; alles würde Anders, und das wäre dann die Welt, wie sie sich uns zeigt, heute, sprachlos. Denn „Die Welt spricht überhaupt nicht. Nur wir sprechen.“ Das hat natürlich nicht Johannes der Evangelist gesagt, sondern Richard Rorty, ein profunder Kritiker unseres Gebrauchs der Worte beim Denken, der es vorzog, nicht mehr als Philosoph zu arbeiten, sondern lieber vergleichende Literaturwissenschaft lehrte. Denn das, was wir Erkenntnis (der Welt) nennen, bedeute in den meisten Fällen ihre Interpretation, welche, je sprachgewandter sie ausfalle, desto überzeugender scheine. „The rest is silence.“ Das hat bekanntlich William Shakespeare gesagt, nicht Rorty. Und auch diesem sollten wir diese Worte nur in die Schuhe schieben, falls es einen solchen Hamlet-schreibenden Shakespeare jemals gegeben hat. „…wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Noch so ein Schweigesatz; großes Kaliber. Hatte der junge Ludwig Wittgenstein, von dem diese Worte stammen, seinen Shakespeare und seinen Spinoza recht verstanden? Dieser Mann aus gutem Hause, der eine Weile glaubte, mit seinem Tractatus logico-philosophicus alle sinnvollen Fragen gestellt und systematisch beantwortet zu haben? In diesem Text gibt es auch einen kryptisch klingenden Satz, der sich wie ein Anti-Johannes-Kommentar lesen lässt, obwohl er doch den Bogen weit zurückschlägt, zu den Anfängen der sprachlichen Äquilibristik: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Eckhart hätte seine Freude an diesen Worten gehabt, ganz sicher.
Steckt der Lógos in den Ordnungen des Universums und der Quantenmechanik?
Doch alles zurück auf Anfang! War nun das Wort zuerst oder die Welt, die eigentlich gar nicht spricht? Könnte es vielleicht sein, dass unsere Sprachfähigkeit von diesem ersten Impuls „Im Anfang war …“ herrührt? Wird das Alles um uns herum und in uns drin nicht auch erst zu einer ‚Welt’ für uns, indem wir sie (in Worten) denken, benennen, kommentieren, interpretieren und aussprechen – aus uns herausstellen? Von einer „Welt an und für sich“ (die wir eigentlich gar nicht kennen) zu einer „Welt für uns“? Ist sie vielleicht, soweit wir noch denken und sprechen, von der Anfangsenergie durchdrungen, vom Lógos des Anfangs? Ist sie nicht, vom Beginn an ausgesprochen, durch ‚Worte‘ energetisiert, erwärmt, beseelt, vielleicht in homöopathischen Dosen? Steckt der Lógos jetzt in den Ordnungen des Universums und der Quantenmechanik, die sich durch Zahlen und Formeln ausdrücken lassen? Oder steckt er eher im ‚Eros’ der alten Griechen, in jener Kraft, die alles (wieder) zu verbinden sucht? Das sind keine Kinderfragen – und sie sind es doch, in der schönen Naivität und Neugier des Fragens. Es sind existenzielle Fragen und Philosophenfragen und theologische Fragen und … Es sind Fragen, als Fragen sind es Worte, aneinander gereihte Worte. Wie viele Worte braucht der Mensch? Wie viele Worte lassen sich hintereinander reihen und ergeben doch immer noch einen Sinn? Ist der Sinn der Worte nicht einfach nur der Sinn der Worte – „a Rose is a Rose is a Rose is a“? Ist der Lógos und sein Hin- und Herzirkulieren zwischen einzelnen Nervensystemen vielleicht doch nur selbstreferenziell?
„Paradise lost"
Noch einmal zurück, zur Schöpfungsgeschichte. Was war das eigentlich, das Adam und Eva von dem Baum mitten im Paradies pflückten, der Baum der Erkenntnis genannt wird? War es wirklich ein harmloser Granatapfel oder beruht diese Annahme nur auf einem Übermittlungs- und Übersetzungsfehler? Ich stelle mir vor, es könnte ein Wort gewesen sein, das sie pflückten (oder es war das Danaergeschenk einer Schlange, wie auch immer). Und das Wort lautete „Ich“. Und als das „Ich“ in der Welt war, musste ein „Du“ hinzukommen, als Ausdruck der Unterschiedenheit. Etwas von dem, was unseren Sinnen begegnet, in diesem Sinne greifbar wird, im Geiste herauszugreifen (zu abstrahieren), mit einem Wort zu benennen und mit einem anderen ‚Etwas‘ und dessen Wort zu vergleichen; das Verhältnis der beiden ‚Etwasse‘ zueinander wieder mit einem Wort (oder mehreren Worten) zu benennen, so in etwa könnte das Denken beginnen. Ohne Differenz ist kein Denken denkbar. Der Frieden des Paradieses aber beruhte auf der Verbundenheit aller Wesen, auf einem Zustand ohne alle Unterscheidung. So zumindest hätte es (vermutlich) Meister Eckhart gesehen. Also mussten Adam und Eva, als sie erst einmal die Worte „Ich“ und „Du“ gepflückt hatten, diesen Zustand verlassen: „Paradise lost.“
Im Sommer des Jahres 2014 präsentierten zwei junge Künstler und eine junge Künstlerin (so viel Differenz muss sein), die sich als Künstlergruppe „SCHAUM“ nennen, in der Galerie Waidspeicher im Kulturhof Zum Güldenen Krönbacken (schöne, enigmatische Worte) eine Ausstellung mit dem Titel „Paradise Lost“. In verschiedenen Installationen, Bildern und Performances thematisierten sie unseren Umgang mit Worten, beispielsweise die Sprachverwendung in der Werbung und im Marketing. Viel ‚Schall und Rauch’, wir kennen es mittlerweile zur Genüge, oder nennen wir es ‚Wortgeklingel’. Dabei geht es immer auch um eine Entwertung von Worten, weil man ihnen nicht mehr glaubt. Was ist zum Beispiel an Worten wie „einmalig“ oder „supergünstig“ noch dran, wenn wir ihnen im Zusammenhang von Produkt- und Imagewerbung begegnen? Wie viele Worte (ver-)braucht der Verkäufer, um potenzielle Käufer zu überreden, eine Ware zu erstehen, die diese unter Umständen gar nicht brauchen? Der Gebrauch von Worten und Bildern durch Menschen für bestimmte Zwecke erscheint anderen Menschen häufig wie Missbrauch, wie eine Zweckentfremdung von Sprache und Ikonografie. Welche Partei hat recht, welcher sprechen wir Recht zu? Das ist der Stand der Dinge und Verhältnisse, der Sprachverhältnisse, so fühlt es sich an, das verlorene Paradies (noch weit jenseits von Mord und Totschlag). Und so entsteht Sehnsucht nach dem Paradies, Sehnsucht nach dem Wiederverbinden des Unverbundenen, einander Entfremdeten. Müssen wir dafür erst wieder den Gebrauch (den Missbrauch) der Worte verlernen? Wie viele Worte braucht der Mensch zum Glücklichsein? Vermutlich keine, sagen wir und schauen auf ein frisch verliebtes Paar, ein Baby an der Brust der Mutter oder auf einen Mönch beim Meditieren. Aber wir wissen auch, dass das Wort „keine“ nur die halbe Wahrheit ist. Für das Aushandeln unterschiedlicher Interessen und beim Abwägen verschiedener Glaubenssätze brauchen wir bekanntlich sehr viele Worte, ob diese immer brauchbar sind, sei dahingestellt.
Die Künstlergruppe SCHAUM suchte in einem Aufruf an die Einwohner Erfurts nach einem Wort von persönlicher Bedeutung. Ausgewählt und im Krönbacken-Hof als Lichtinstallation aufgebaut wurde das mehrmals genannte Wort „WÄRME“. Die Arbeit trug den Titel „Am Anfang war das Wort“. Neonröhren wurden an einem Holzgerüst befestigt und formten die Buchstaben, beinahe so, als wäre es eine Lichtreklame für den städtischen Raum. Doch blieb das Wort am Boden. Und offerierte dem Betrachter einen Widerspruch, denn das Wort, das in der deutschen Sprache durchgängig positiv besetzt ist, mit dem Geborgenheit, Entspannung, Energie und Wohlbehagen suggeriert werden, strahlte in einem kühlen Weiß, der Farbtemperatur von mittäglichem Tageslicht entlehnt, in die sommerlichen Abende des historischen Zentrums von Erfurt hinein.
Kai Uwe Schierz