Dirk Löhr: Wie viele Worte braucht der Mensch? Alle, und noch ein paar mehr.
Wie viele Worte braucht der Mensch? Alle, und noch ein paar mehr.
Wann gilt eine Art als ausgestorben? Wann werden eine Pflanze oder ein Tier aus der Liste der lebenden Geschöpfe gelöscht? Die Antwort auf diese Fragen scheint einfach. Was nicht mehr da ist, das ist weg, verschwunden, ward nimmer mehr gesehen. Aber vielleicht gibt es den gesuchten Finken doch noch, oder die vermisste Binse – irgendwo auf einem Eiland, trefflich versteckt vor denen, die sie vielleicht schon gar nicht mehr suchen. So bleibt das mit dem Aussterben eine heikle Sache. Mag sein, irgendwo da draußen kichert gerade ein Dodo.
Der ward wahrlich lange nicht gesehen. Er gilt als verschollen. Tüchtige Ornithologen haben gemerkt, dass er fehlt. Das ist nicht selbstverständlich. Manches hat sich längst von uns verabschiedet, ohne Bescheid zu geben. Wir merken es meist gar nicht. So ist es auch mit den Worten. Sie werden uns oft erst bewusst, wenn es uns die Sprache verschlägt. Wenn wir nach Worten suchen. Wenn wir keine finden.
Mir ist das, da bin ich bestimmt keine Ausnahme, das eine oder andere Mal passiert. Aus Freude, dann war es wohl eine schöne Überraschung, oder aus Entsetzen, das fiel dann eher in die Rubrik schöne Bescherung.
Aber es gibt auch die Momente dazwischen. Wie den einer Rede. Eine Danksagung an meine Heimatstadt, im Festsaal des Rathauses, mit vielen Honoratioren und den Freunden meines Vereins. Die Stadt hatte uns ihren Kulturpreis zugedacht, für die Lesereihe, die seit 1997 als Erfurter Herbstlese bekannt ist. Ein Hochgefühl, so am Pult zu stehen, stolz und dankbar zugleich.
An der Stelle, an der ich an die gemeinsame Schulzeit mit meinem Freund Michael John erinnern wollte, als ich mit ausladender Geste hinter mich wies, in Richtung des gelben Hauses, das für Jahrzehnte die Humboldt-Oberschule war, als ich zu erklären suchte, was da für ein Lebensweg zwischen den beiden Häusern lag, deren Entfernung doch in Minuten abgeschritten werden kann, da passierte es. Mir verschlug es die Sprache. Aus Rührung, aus Überwältigung, eine alles beherrschende Emotion.
Kein Wort. Nicht eins. Ich rang nach Luft und dem richtigen Wort. Ich strengte mich an, und erreichte nichts. Die Zunge blockierte, weil im Hirn nur ein Gedanke pochte. Jetzt bloß nicht noch heulen.
Die Angst vor der Blamage hat mich dann wohl gerettet. Meine Stimme kam wieder in Gang, die Rede nahm ihren Lauf. Alles wurde gut.
Ich habe die Zeichen damals nicht deuten können, meinen eigenen stummen Schrei überhört. Das sollte sich rächen.
Nur wenige Jahre später stand ich an gleicher Stelle. Wieder war eine Rede zu halten. Der Anlass: ein trauriger. Plötzlich war Michael gestorben. Einfach so. War auf der Bühne zusammengebrochen, als er alles für eine Lesung richten wollte. Der Vater, der Mann, der Freund – einfach nicht mehr da. Er, der die Herbstlese unermüdlich am Laufen hielt, Micha, der selten verhaltenen Schrittes zu sehen war, mit dem sich über alles reden ließ. Wie sollte es ohne ihn weitergehen?
Die Trauerfeier im Rathaus war würdig und traurig. Schöne Musik und schöne Erinnerungen. Um sicher zu gehen, hatte ich einen Freund in die erste Reihe gesetzt. Er hätte übernommen, für mich die Worte vom Papier abgelesen. Doch ich kam durch.
Aber die Unruhe blieb. Hatte ich die richtigen, hatte ich genug Worte gefunden? Zum Glück war ich als Redner nicht allein. Dietmar Herz, Andreas Bausewein, Christoph Dieckmann und Uwe Peter hatte ihre, die richtigen Worte, um Michael zu ehren. Es hätten noch viel mehr sein können.
Danach war es mit meinen öffentlichen Reden vorbei. Jeder Auftritt endete im Fiasko. Tränen statt Worte.
Ich brauchte Hilfe, und ich bekam sie. Nach und nach kehrten die Worte zurück. Ich weiß jetzt, dass ihr Gebrauch nicht immer selbstverständlich ist. Ich lernte wieder schätzen, was ich gar nicht vermisst hatte.
Die Worte, lässt sich mit Verweis auf James Krüss sagen, die Worte unterscheiden Mensch und Tier. So lange wir Worte haben, sind wir Mensch.
Und wie viele Worte braucht der Mensch? Alle, und noch ein paar mehr. Wie das Wort Dodo, das weiterlebt. Wie die Erinnerung an den Freund.
Dirk Löhr (geb. 1966) organisierte mit Michael John (1965 – 2011) im Jahr 1997 die erste Erfurter Herbstlese. Er ist Vorsitzender des gleichnamigen Vereins.