Tagungsbericht: Das Neutralitätsgebot als Herausforderung für die Demokratie – Wie gegenüber rechtsextremen Meinungen und Machtpositionen Haltung bewahren?
Die Idee zur Tagung brachte PD Dr. Annegret Schüle, Oberkuratorin am Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz, in das Netzwerk Weltoffenes Thüringen ein. Gemeinsam mit Sabine Voigt, Geschäftsführerin der Erfurter Voigt electronic GmbH, Laura Kleb, Mitarbeiterin im Projekt ZukunftsChancen des AWO Landesverbandes Thüringen, und Alfred Bax, Leiter des Projekts PARTHNER im Kulturrat Thüringen, und ihren jeweiligen Teams wurde das Konzept für die Tagung entwickelt und erfolgreich umgesetzt. Ziel der von der Amadeu Antonio Stiftung und dem Projekt PARTHNER im Kulturrat Thüringen geförderten Veranstaltung war es, sich auszutauschen, zu vernetzen und gemeinsam Strategien zu entwickeln, um im beruflichen und ehrenamtlichen Kontext die von der AfD ausgehenden Gefahren für Demokratie und Rechtsstaat klar benennen zu können, ohne sich gleichzeitig in Bezug auf das Gebot der parteipolitischen Neutralität angreifbar zu machen.
Handlungsspielräume ausloten und nutzen
In ihrer Begrüßung problematisierte Annegret Schüle, dass das vorherrschende politische und juristische Verständnis des Gebots parteipolitischer Neutralität für öffentliche Einrichtungen und öffentlich geförderte Verbände oder Vereine bislang eine Hürde dafür darstellt, angemessen mit dem verfassungs- und demokratiefeindlichen Agieren der AfD umzugehen. Ein erst Mitte August 2024 von Friedhelm Hufen, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Mainz, veröffentlichtes Rechtsgutachten stelle dabei einen Paradigmenwechsel dar. In der Prüfung eines Berichts des sächsischen Landesrechnungshofes zu einer ministeriellen Förderrichtlinie hält Hufen fest, dass weder das Neutralitätsgebot noch die Chancengleichheit politischer Parteien öffentlich geförderten Vereinen die sachliche Auseinandersetzung mit diesen und die Benennung von verfassungsfeindlichen Akteuren verbiete. Der Einsatz für eine streitbare Demokratie dürfe demnach nicht gegen die parteipolitische Neutralität ausgespielt werden. Annegret Schüle wertete dieses Gutachten als Ermutigung: „Wir selbst können als Handelnde und Menschen, die Entscheidungen treffen, zu einer Veränderung beitragen, indem wir unsere Handlungsspielräume für Demokratie und Rechtsstaat ausloten und nutzen, andere dazu ermutigen und bei Konflikten solidarisch sind.“ Dies könne schließlich auch zu einer Veränderung in der juristischen Interpretation des Neutralitätsgebots führen, wie sie Prof. Dr. Friedhelm Hufen mit seinem Rechtsgutachten eingeleitet hat.
Anschließend legte Sabine Voigt dar, weshalb es für sie als Unternehmerin unabdingbar sei, eine klare Haltung für Demokratie und Menschenrechte zu zeigen, die der „Boden der Wirtschaft“ seien. Nicht nur aufgrund des akuten Fachkräftemangels stelle die Politik der AfD eine Bedrohung für die ökonomische Zukunft Thüringens dar, auch das Image des Landes leide durch den politischen Machtgewinn der rechtsextremen Thüringer AfD enorm. Gleichzeitig ermunterte sie andere Unternehmen, sich ebenso klar für ein Weltoffenes Thüringen einzusetzen. Die Wirtschaft sei eine entscheidende Kraft bei der Erhaltung der Demokratie.
Laura Kleb wies darauf hin, dass die AWO nicht nur aufgrund ihrer Historie, sondern auch mit ihrer in diesem Jahr veröffentlichten Erfurter Resolution „Demokratie verteidigen, Zukunft gestalten“ klar für eine gerechte und zukunftsgerichtete Politik eintrete. Das antidemokratische und menschenfeindliche Weltbild der extremen Rechten und der AfD stünden im klaren Widerspruch zu diesen Werten. Fast alle AWO-Vereine und -Unternehmen seien gemeinnützig und somit steuerbegünstigt. Wenn diese Einrichtungen und ihre Mitarbeitenden gegen die menschenverachtenden Positionen der AfD Haltung zeigen, könnten sie trotz ihres eindeutigen Leitbildes nach bisheriger juristischer Auslegung ihren gemeinnützigen Zweck gefährden.
Abschließend begrüßte Alfred Bax die Teilnehmenden und zeigte auf, dass die Frage der parteipolitischen Neutralität und eine mögliche Gefährdung der Gemeinnützigkeit auch den Thüringer Kulturrat und seine Mitglieder seit längerer Zeit beschäftige. Im Zuge ihres Engagements im Netzwerk Weltoffenes Thüringen bereite der Verein aktuell eine Satzungsänderung vor, um weiterhin die rechtsextremen und verfassungsfeindlichen Positionen der AfD in seinen staatlich geförderten Demokratieförderprojekten problematisieren zu können, ohne dabei seine Gemeinnützigkeit zu gefährden. Am Beispiel seines Demokratieprojekts PARTHNER stellte Alfred Bax klar, dass die Vermittlung einer Haltung zu den Grundwerten unserer Demokratie, allen voran die Menschenwürde und die Gleichheit aller Menschen, „keinesfalls neutral“ sein könne.
Parteipolitisch neutral bedeutet nicht werteneutral
Im Anschluss an die Begrüßung referierte Stephan J. Kramer, Präsident des Amtes für Verfassungsschutz beim Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales, über die Gefahren von Rechtsextremismus und Verfassungsfeinden in Thüringen. Dabei machte er deutlich, dass auch das Amt für Verfassungsschutz und seine Mitarbeitenden zu einer parteipolitischen Neutralität verpflichtet seien. Dies gelte auch für eine Partei wie die AfD, die der Thüringer Verfassungsschutz selbst als gesichert rechtsextrem und damit als akute Bedrohung für die Verfassung einstufe. Solange die AfD nicht verboten ist, müsse sie wie alle Parteien behandelt werden. Doch parteipolitisch neutral bedeute nicht werteneutral. Als Beamter habe er seinen Eid auf die Thüringer Verfassung und das Grundgesetz geschworen, er werde „dafür bezahlt, Haltung zu haben und jederzeit auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu stehen“. Alle Beamte und Angestellte seien verpflichtet, Haltung zu zeigen. Stephan J. Kramer warnte eindringlich, dass die verfassungsrechtlichen Grundwerte aktuell in realer Gefahr seien. Diese Gefahr gehe eindeutig von der erstarkten extremen Rechten aus, die nicht nur „seit Jahrzehnten erstmals wieder Mehrheiten in der Herzkammer unserer Demokratie“ erlange, sondern zugleich demokratische Institutionen wie Justiz, staatliche Verwaltungen oder Schulen unterwandere. „Rechtsextreme haben es geschafft, die Axt an den Wurzeln der Demokratie anzusetzen,“ so Kramer. Eine wehrhafte Demokratie bedeute, dass es Aufgabe der Justiz, der Behörden und der demokratischen Politik, aber auch der Bürgerinnen und Bürger sei, sich gemeinsam diesen Feinden der Demokratie entgegenzustellen und sich so schützend für die Erhaltung der Grundrechte einzusetzen. Die Bürgerinnen und Bürger seien der wirksamste Verfassungsschutz.
Wie rechtsextremen Haltungen und Verantwortlichen begegnen?
Welche Rolle kirchliche Einrichtungen, Sozialverbände und Wirtschaftsunternehmen im Kampf gegen die von Kramer geschilderte Bedrohung der Demokratie einnehmen können und wie sie dabei mit rechtsextremen Haltungen und Verantwortlichen im Konkreten umgehen, war Thema des darauffolgenden Podiumsgesprächs. Katja Glybowskaja, Geschäftsführerin des AWO Landesverbandes Thüringen, betonte, dass der AWO-Handlungsleitfaden gegen Menschen- und Demokratiefeindlichkeit klare Linien zum Umgang mit rechtsextremen Haltungen innerhalb ihres Verbandes vorgebe. Die AWO sei als starker Akteur der Zivilgesellschaft nicht neutral, das gehe aus ihrem Statut, ihrer Geschichte und dem eigenen Selbstverständnis hervor. Verantwortungsträger der rechtsextremen Thüringer AfD stellen die AWO jedoch vor große Herausforderungen. So sei etwa der 2023 in Sonneberg gewählte AfD-Landrat bislang noch durch eine Mehrheit der demokratischen Parteien im Kreistag gebremst worden. In Folge der Kommunalwahlen im Mai 2024 habe sich die Lage aber verändert: neben dem Amt des Landrates stellt die AfD nun auch die stärkste Fraktion im Kreistag in Sonneberg. Aktuell müsse noch abgewartet werden, welche Auswirkungen diese neue politische Dominanz der AfD auf die Arbeit der AWO in dieser Region habe. Die Lage sei aber schon jetzt für Mitarbeitende sowie Klientinnen und Klienten, beispielsweise in der Migrationsberatung, bedrohlich. Hoffnungsvoll zeigte sich Katja Glybowskaja angesichts der klaren Positionierung der Liga der freien Wohlfahrtspflege in Thüringen e.V. Die darin zusammengeschlossenen freien Wohlfahrtsverbände, die sich alle auch im Netzwerk Weltoffenes Thüringen engagieren, klären in einer gemeinsamen Kampagne zum Wahljahr 2024 darüber auf, weshalb die Programmatik der AfD eine Bedrohung für ihr Arbeitsfeld darstellen. Dies gelte beispielsweise im Bereich der Inklusion, aber auch im Kontext der Anwerbung von internationalen Fachkräften für die Thüringer Sozialwirtschaft.
Ramón Seliger, Rektor der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein gGmbH, wies darauf hin, dass die Diakonie als sozialer Dienst der evangelischen Kirche an den biblischen Auftrag gebunden sei und in ihren Einrichtungen ein christliches Menschenbild vertrete. Dadurch sei die Diakonie keine werteneutrale Institution. In dieser Konsequenz habe sie sich beispielsweise bewusst Anfang des Jahres im Vorfeld zur Landratswahl im Saale-Orla-Kreis im Bündnis „Dorfliebe für alle“ für die Wahl des demokratischen Kandidaten eingesetzt. Darüber hinaus plädierte Ramón Seliger dafür, den Dialog über die aktuellen Bedrohungen für die Demokratie auch innerhalb der Einrichtungen der Diakonie fortzuführen. Dies gelte für alle Bereiche und Ebenen, für von der Diakonie getragene Schulen wie für die Aufsichtsräte.
Der ebenfalls im Netzwerk Weltoffenes Thüringen engagierte Geschäftsführer der ORISA Software GmbH in Jena, Matthias Schwuchow, machte deutlich, dass er sich ein breiteres Bekenntnis für Demokratie und Vielfalt von der Thüringer Wirtschaft wünsche. So habe er schon von einem Unternehmer gehört, dass dieser sich nicht positionieren wolle, um seine AfD-nahen Kundinnen und Kunden nicht zu verprellen. Als Unternehmen unterliege man keinem Neutralitätsgebot, so Schwuchow, sondern müsse sich immer wieder eigenverantwortlich fragen, welche Haltungen und Werte man nach innen und außen vertreten möchte. Eine Unterschrift für eine Weltoffenes Thüringen sei ein Anfang, reiche aber nicht aus, war der Appell des Unternehmers. Abschließend ermutigten alle drei Podiumsgäste die Teilnehmenden, in den letzten Tagen vor der Wahl aktiv in das Gespräch mit Familie und Bekannten, Kolleginnen und Kollegen zu gehen, um möglichst konkret anhand der jeweiligen Lebenswirklichkeit vor den Gefahren der extremen Rechten und der AfD zu warnen.
Erfahrungsaustausch und Forderungen für die Praxis
Im Anschluss an das Podiumsgespräch fanden sich die Tagungsteilnehmenden in thematischen Gruppen zusammen, um sich im vertraulichen Raum über ihre Erfahrungen mit dem Widerspruch zwischen der Vertretung einer demokratischen Grundhaltung und einer parteipolitischen Neutralität im Beruf und/oder Ehrenamt auszutauschen. Im anschließenden Plenum teilten die Tagungsteilnehmenden die Ergebnisse aus den Gruppen miteinander. Dabei hielten Beteiligte an der Gruppe Soziales/Wirtschaft fest, dass es mittlerweile eine große Zahl an Positionspapieren aus vielen gesellschaftlichen Bereichen gebe, deren Umsetzung in die Praxis sowie der branchenübergreifende Austausch über die jeweiligen Erfahrungen aber noch unzureichend sei. Aus dem Bereich Bildung/Wissenschaft Berichtende hoben hervor, dass politische Bildung immer den Werten des Grundgesetzes verpflichtet und deshalb niemals als neutral zu verstehen sei. Zudem wiesen sie darauf hin, dass politische Bildung in der Regel auf Jugendliche ausgerichtet sei, obwohl es bei Erwachsenen, insbesondere in Führungspositionen, einen ebenso dringlichen Bedarf in diesem Bereich gebe. Als Ergebnis ihrer Gruppendiskussion hielten sie fest, dass es wichtig sei, sich bei kritischen Fragen schon vor der Umsetzung von politischen Bildungsprojekten um Solidarität innerhalb der eigenen Institution zu bemühen, ggf. rechtliche Beratung zu suchen und Handlungsspielräume klar abzustecken (wie etwa mit der Durchsetzung des eigenen Hausrechtes).
Die Themengruppe von zivilgesellschaftlich Engagierten teilte die Beobachtung, dass es trotz der real existierenden Bedrohungslage durch die extreme Rechte wichtig sei, sich nicht aus vorauseilendem Gehorsam im Vorfeld der Landtagswahl davon abhalten zu lassen, Haltung zu zeigen. Personen, die sich (insbesondere im ländlichen Raum) isoliert und allein fühlen, empfahl sie, gezielt Netzwerke zum Austausch zu suchen. Außerdem forderten sie große Institutionen dazu auf, kleine Initiativen zu unterstützen, die manchmal schon Schwierigkeiten haben, Räume für die Umsetzung ihrer Projekte zu finden. Dass Kultur eine Schnittstelle für viele verschiedene Gesellschaftsbereiche darstelle, hoben die Aktiven aus der Gruppe Kultur hervor. Sie sahen das breite Spektrum der kulturellen Bildung als Chance, um gezielt den Kreis der Gleichgesinnten, die eigene „Bubble“ zu verlassen. Als Handlungsempfehlung für die vereinsdominierte Kulturlandschaft empfahl die Gruppe, Vereinssatzungen in Hinblick auf die Verpflichtung auf demokratische Grundwerte anzupassen, ggf. eine Präambel zu ergänzen und gemeinsam mit den Vereinsmitgliedern werteorientierte Leitbilder zu erarbeiten.
Aus der Themengruppe Kirchen kam als wichtiger Hinweis, dass es weiterhin eine Stärke ihrer Institutionen sei, dass sie sowohl im städtischen als auch ländlichen Raum Menschen erreiche. Dass die politischen Positionen der AfD im klaren Widerspruch zum christlichen Menschenbild stehen, müsse jedoch in allen Bereichen der Kirchen noch stärker benannt werden. Zwar gebe es auch hier bereits klare Statements von kirchlichen Verantwortlichen an der Spitze, doch sei der innerkirchliche Austausch zu diesen politischen Themen weiterhin ausbaufähig. Da die letzte thematische Gruppe mit Teilnehmenden aus öffentlichen Einrichtungen, dem Sport, der Feuerwehr, der Polizei und der Justiz besonders divers zusammengesetzt war, ergaben sich daraus auch verschiedene Anforderungen, wie demokratische Grundwerte und das Gebot der parteipolitischen Neutralität zu vereinbaren sei. Aus den Sportvereinen oder der Feuerwehr wurde betont, wie wichtig das Wertebekenntnis in den Satzungen sei. Aus der Polizei wurde berichtet, dass Beamte politisch neutral sein müssen, aber gleichzeitig der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichtet sind: „Jeder Polizeibeamte ist kraft Gesetzes ein Antifaschist“, brachte es ein Polizeibeamter in der Gruppe auf den Punkt. Gerade angesichts ihrer Heterogenität hielt die Gruppe als Ergebnis fest, dass eine gute Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Verwaltung und zivilgesellschaftlichen Initiativen ein produktiver Weg sei, damit Akteure mit unterschiedlichen Grenzen und Ressourcen ihre Möglichkeiten kombinieren und sich gegenseitig in ihrer Haltung stärken.
Am Ende des Nachmittagsprogramms zeigten sich die vier Verantwortlichen für die Tagung gemeinsam mit Eric Wrasse, Mitinitiator des Netzwerks Weltoffenes Thüringen, sehr zufrieden, dass sich ihre Hoffnungen auf Austausch, Vernetzung und Ermutigung erfüllt haben. Die Vielfalt der Teilnehmenden aus den Bereichen Soziales und Wohlfahrt, öffentliche Verwaltung, Sport, Polizei, Feuerwehr, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Museen, Schulen, freie Bildungsträger, zivilgesellschaftliche Vereine und Initiativen spreche für sich und zeige, dass sich die Menschen im Einsatz für den Erhalt der Demokratie über den eigenen Berufs- und Wirkungskreis hinaus vernetzen und solidarisieren wollen. Die Gespräche hätten die dringende Notwendigkeit verdeutlicht, eine abwartende, sich wegduckende und die Gefahren für die Demokratie ignorierende Verhaltensweise aufzugeben und sich aktiv für die verfassungsrechtlichen Grundwerte und Menschenrechte mit der eigenen Einrichtung, dem Verband oder dem Verein einzusetzen. Dieses Engagement brauche es nicht nur bis zum 1. September, es sei gerade nach der Landtagswahl unablässig nötig.
Die größten Bedrohungen für Demokratie und Verfassung
Zum Abschluss der Tagung fand am Abend eine gut besuchte öffentliche Veranstaltung statt, die mit einer Lesung von Jakob Springfeld aus seinem Buch „Unter Nazis. Jung, ostdeutsch, gegen Rechts“ eröffnet wurde. Dabei schilderte der junge Aktivist auf eindrückliche Weise, was das Aufwachsen in Zwickau für ihn als jungen und politisch aktiven Mensch bedeutete: in dieser Stadt konnte das Kerntrio des NSU jahrelang untertauchen, hier leben Menschen, die ihm Unterstützung gaben, weiterhin unbehelligt. In dieser Stadt wird das Leben von Menschen mit Migrationsgeschichte oder mit antifaschistischem Engagement wie ihm bis heute durch die extreme Rechte gewaltsam bedroht. Trotz seiner sehr beunruhigenden und zum Teil schwer erträglichen Schilderungen machte Jakob Springfeld den Zuhörenden Mut, sich engagiert und solidarisch gegen die extreme Rechte einzusetzen.
Wie Staat und Zivilgesellschaft gemeinsam Demokratie und Verfassung schützen können, war Thema des durch PD Dr. Annegret Schüle anschließend moderierten Gesprächs. Als Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Universitätsprofessor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit wertete Jens-Christian Wagner die Angriffe der AfD und der extremen Rechte auf die erstrittene Kultur der Erinnerung an den Holocaust und die nationalsozialistischen Massenverbrechen als eine große Bedrohung. Mit Sorge schilderte er, dass der Geschichtsrevisionismus der AfD bereits kulturelle Hegemonie in einigen Regionen Thüringens erlangt habe. Deshalb sei es so wichtig gewesen, dass sich die Stiftung im Bündnis „Nordhausen zusammen“ 2023 erfolgreich für die Wahl des demokratischen OB-Kandidaten einerseits und für die Aufdeckung der geschichtsrevisionistischen Positionen des AfD-Kandidaten andererseits eingesetzt habe. Mit diesen Erfahrungen schickte die Stiftung Mitte August 2024 einen Rundbrief an 350.000 Personen über 65 Jahre, um über die von der AfD ausgehenden Gefahren für die Erinnerungskultur, für Demokratie und Rechtsstaat aufzuklären und für die Wahl der demokratischen Parteien zu werben. Seit Anfang August laufe zudem ein neues Forschungsprojekt an seinem Lehrstuhl, dass über die Website www.geschichte-statt-mythen.de gezielt über in Thüringen verbreitete geschichtsrevisionistische Mythen aufklärt.
Für Jakob Springfeld stellt es auch eine Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung dar, wenn die nachhaltige staatliche Förderung der im Kampf gegen die extreme Rechte wichtigen Demokratieförderprojekte der Sparpolitik zum Opfer fällt. Elke Heßelmann, bis vor kurzem Präsidentin des Verwaltungsgerichts Weimar und ehem. Richterin am Thüringer Verfassungsgerichtshof, betonte, dass eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit in Thüringen auch darin bestehe, dass die als rechtsextrem eingestufte AfD nach der Wahl über eine Sperrminorität im Thüringer Landtag verfügen könnte, auch ohne die absolute Mehrheit zu stellen. Es drohe eine schleichende Unterwanderung der rechtsstaatlichen Institutionen durch die extreme Rechten indem sie beispielsweise Posten im Verfassungsgerichtshof oder im Richterwahlausschuss besetzt. Es müsse klar sein, dass eines ihrer ersten politischen Ziele das Aushöhlen der Justiz sei. Trotz dieser Bedrohung beobachtet Elke Heßelmann weiterhin eine gesellschaftliche Naivität bei diesem Thema. Als erfolgreiches Beispiel für die Aufklärung verwies sie auf das Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs. Dort wird herausgearbeitet, welche Möglichkeiten eine Partei auf Landesebene hätte, Grundgesetz und Verfassung zu schwächen, auszuhebeln oder sogar ganz abzuschaffen.
Auch für Bildung und Wissenschaft stelle die AfD eine große Gefahr dar, so der Privatdozent für Religionspädagogik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Thomas Heller. Mit ihrer bewussten Verbreitung von Desinformationen und der damit verbundenen Delegitimierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen nehme sie bedrohlichen Einfluss. Ein wichtiger Punkt sei deshalb eine fächerübergreifende politische Bildung in Schulen, wie sie auch das Thüringer Schulgesetz explizit fordert. Dort heißt es in § 2: „Die Schule erzieht zur Achtung vor dem menschlichen Leben, zur Verantwortung für die Gemeinschaft, zu einem gewaltfreien und friedlichen Zusammenleben weltweit und zu einem verantwortlichen Umgang mit der Umwelt und der Natur.“ Nach Thomas Hellers Ansicht scheuen sich die meisten Lehrkräfte aber bislang davor, klar die von der als rechtsextrem eingestuften Thüringer AfD ausgehenden Gefahren zu benennen und begründen dies mit dem Gebot der parteipolitischen Neutralität oder der Sorge, die Jugendlichen mit diesen Themen zu überfordern. Diesen Argumentationen stünde nicht nur das Thüringer Schulgesetz entgegen, sondern auch der sogenannte Beutelsbacher Konsens als Leitlinie der demokratischen politischen Bildung in Deutschland. Mit seinem Kontroversitätsgebot werde oft fälschlicherweise für die Neutralität argumentiert, stattdessen werde dort gefordert, politische Kontroversen auch im Unterricht kontrovers zu diskutieren.
Die Normalisierung der extremen Rechten verhindern
In der anschließenden Diskussion meldeten sich Publikumsgäste aus unterschiedlichsten beruflichen und zivilgesellschaftlichen Bereichen zu Wort und berichteten über ihre Herausforderungen im Kampf gegen Rechtsextreme in verantwortlichen Positionen und deren Ideologien in Thüringen. Eine Besucherin aus Nordhausen wies darauf hin, dass die AfD seit der Kommunalwahl dort nicht nur die stärkste Fraktion im Stadtrat bilde, sondern nun auch ihr Vertreter mit Stimmen der demokratischen Parteien zum Stadtratsvorsitzenden gewählt wurde. Ein gesellschaftlicher Aufschrei sei aber ausgeblieben. Diese Normalisierung von Rechtsextremen in Entscheidungspositionen müsse verhindert werden. Der pädagogische Leiter der Europäischen Jugendbildungs- und Begegnungsstätte in Weimar (EJBW), Eric Wrasse, berichtete, dass es immer häufiger zu Gegenwehr von Eltern kommen, wenn sich Schulen in Thüringen an dem Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ beteiligen wollen. Obgleich diese Projekte eine am Grundgesetz und der Menschenwürde orientierte nachhaltige Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und anderen Formen von Diskriminierung im schulischen Kontext anregen sollen, werde dieses schulische Engagement als „linke Ideologieprojekte“ abgelehnt.
Breite Bündnisse und Beharrlichkeit
Durch eine Vielzahl von Beispielen machte die Veranstaltung sichtbar, welche Gefahren durch die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte AfD in Thüringen bislang und in Zukunft ausgehen. Gleichwohl gelang es dem Podium, zum Abschluss einen ermutigenden und zugleich realistischen Ausblick auf die kommenden Herausforderungen zu geben. Insbesondere die letzten Monate und Wochen konnten zeigen, wie wichtig es sei, verlässliche Bündnisse zu schließen und die Vernetzung zwischen zivilgesellschaftlich und institutionell Aktiven in Stadt und Land zu stärken. Das Netzwerk Weltoffenes Thüringen sei dafür ein gutes Beispiel. Doch der gemeinsame Einsatz dürfe nicht am Tag der Wahl enden, sondern müsse gerade nach dem 1. September fortgeführt werden. Wichtig sei es dabei auch, einerseits die demokratischen Parteien zu unterstützen und andererseits die Inhalte der vielschichtigen aktuellen Krisen klarer benennen und anzugehen, um diese wichtigen Themen nicht den populistischen bis extremen Parteien zu überlassen. Am Ende war allen Beteiligten klar, dass der Einsatz für die Sicherung unserer Demokratie mühsam und belastend sein kann, aber ein Benennen der Probleme und sich Verbünden gleichzeitig Energie freisetzt. Einig war man sich, dass es Zivilcourage und demokratieförderndes Handeln im Privaten wie im Beruf aktuell mehr denn je braucht.
Weiterführende Links, Informationen und Texte zum Thema der Tagung sind auf einem thematisch sortierten Padlet gesammelt, das unter folgendem Link abrufbar ist: https://padlet.com/projektzc/literatur-linksammlung-neutralit-tsgebot-p0brthn9iv9pdkkg