Lesen und Schreiben lernen mit der Volkshochschule Erfurt

11.07.2024 11:41

Rund 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. In Erfurt sind das rein rechnerisch 16.000 Menschen. Ihnen einen Zugang zu Grundbildung zu ermöglichen, gehört zu den Aufgaben der Volkshochschule Erfurt. Dort geht es längst nicht „nur“ darum, Schreib- und Lesekenntnisse zu vermitteln – sondern darum, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Kurse im Rahmen der Grundbildung ermöglichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben

Foto: Andreas Dölle und Anne-Sophie Gozé-Diemar unterstützen Lernende an der Volkshochschule Erfurt. Foto: © Stadtverwaltung Erfurt
Foto: Einen Mietvertrag unterschreiben, einen Antrag auf Wohngeld ausfüllen, mit der Bank oder der Krankenkasse kommunizieren – die Unterrichtsmaterialien orientieren sich am alltäglichen Leben erwachsener Menschen. Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

Eine Fahrkarte am Automaten kaufen, im Online-Banking Geld überweisen oder sich mal eben am Handy über einen Begriff oder das Tagesgeschehen informieren – was für die meisten Menschen selbstverständlich ist, ist für Menschen, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben, eine große Hürde. „Beim Thema Grundbildung geht es nur zum Teil um Lesen und Schreiben“, sagt Andreas Dölle, Leiter des Fachbereichs Sprachen an der Volkshochschule Erfurt. „Es geht auch um andere Kompetenzen: den Umgang mit Medien und moderner Technik zum Beispiel, das Wissen darüber, wie man mit Geld umgeht, um Geografie-Kenntnisse und noch viel mehr.“

Zwei Kurse mit dem Titel „Lesen und Schreiben“ laufen aktuell an der Volkshochschule. Einmal wöchentlich, jeweils 90 Minuten lang, werden den Teilnehmenden darin grundlegende Kompetenzen vermittelt. Geht es in Level 1 und 2 um Silben- und schließlich Wortebene, bewegen sich die Lerninhalte im Kurs für Level 3 und 4 auf Satz- und Textebene. Zielgruppe sind Menschen, deren Muttersprache Deutsch ist und die nicht ausreichend gut lesen und schreiben können. Geleitet werden die Kurse seit 2021 von Anne-Sophie Gozé-Diemar, die hauptberuflich Lehrerin ist.

„Lesen kann doch Jede(r)!“

Eine Frage, mit der Analphabeten häufig konfrontiert werden: Wie kann es sein, dass sie – trotz Schulabschluss, trotz Job – nicht lesen und schreiben können? „Viele haben Prüfungen bestanden, weil die Lehrer ein Auge zugedrückt haben“, erzählt Anne-Sophie Gozé-Diemar. „Oft haben die Menschen dann, viele noch zu DDR-Zeiten, eine Ausbildung auf niedrigem Level absolviert und in diesem Beruf dann auch gearbeitet. Mitunter wurde das Lesen im praktischen Alltag wieder verlernt.“ Das Vorurteil, dass Analphabeten ungebildet seien, kann die Dozentin nicht bestätigen. „Sie müssen viel auswendig lernen und entwickeln Strategien, damit sie nicht ,erwischt‘ werden“, sagt sie. Dabei erhalten sie oft – bewusst oder unbewusst – Unterstützung: von der Schwester, die daheim die Briefe öffnet, vom Kollegen, der auf Arbeit Urlaubsanträge ausfüllt, von der Behördenmitarbeiterin, die aushilft, weil man „die Brille zu Hause vergessen“ hat.

Doch der digitalisierte Alltag wird ohne Lesen und Schreiben immer schwerer zu bewältigen. „Oft nehmen diese Menschen Schlimmeres in Kauf, als zuzugeben, dass sie nicht lesen und schreiben können“, berichtet Andreas Dölle. „Meist findet man eher zufällig heraus, dass jemand damit Probleme hat.“ Dann zum Beispiel, wenn Vermeidungsstrategien auffallen: die schlechten Augen, der verbundene Arm, der das Ausfüllen eines Formulars verhindert – oder dass dieses mit nach Hause und nicht vor Ort ausgefüllt wird. „Dann bedarf es einer besonders sensiblen Ansprache“, so Dölle. „Es ist daher wichtig, dass sowohl Kontaktpersonen an den entsprechenden Schaltstellen wachsam sind, aber auch, dass Vertrauenspersonen sensibilisiert sind.“ Diese sind für Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, eine wichtige Stütze. „Die wenigsten Kursteilnehmenden kommen von allein, oft werden sie zumindest beim ersten Mal von einer nahestehenden Person begleitet“, berichtet der Fachbereichsleiter.

Themenausrichtung am Alltag

Neben der festen Lektüre in den Lesen-und-Schreiben-Kursen können sich die Teilnehmenden Themen wünschen. Wichtiges Thema in den letzten Wochen waren die Kommunalwahlen in Thüringen. „Inhalte der politischen Bildung sind wichtig“, sagt Anne-Sophie Gozé-Diemar. „Wir haben mit den Stimmzetteln gearbeitet, angeschaut, welche Parteien es gibt, und die Unterschiede zwischen Bundes- und Lokalpolitik besprochen.“ Auch beim Thema Politik lässt sich das Schreiben ganz praktisch üben: „Indem man zum Beispiel einen Brief an den Oberbürgermeister schreibt, wenn man mit etwas nicht zufrieden ist“, so die Dozentin. „Auch einen Brief an den Bundespräsidenten haben wir im Rahmen eines Wettbewerbs des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung gemeinsam geschrieben. Das hat die Teilnehmenden stolz gemacht, weil sie zeigen konnten, dass sie als Gruppe agieren und etwas draufhaben.“

Mehr Selbständigkeit und ein wachsendes Selbstbewusstsein gehören zu den individuellen Erfolgen des Kurses. „Viele sehen oft die Möglichkeiten nicht, sich einzubringen, und fühlen sich im Alltag ausgeschlossen“, so Gozé-Diemar. „Wir organisieren zum Beispiel Ausflüge in die Bibliothek oder das Museum und zeigen: Das alles gehört uns allen und wir können davon profitieren.“ Die Erfolgserlebnisse motivieren auch die Dozentin: „Die Teilnehmenden freuen sich, wenn sie mehr Wörter verstehen, flüssiger lesen, sie erste kleine Texte schreiben, zum Beispiel für die ABC-Zeitung der VHS Oldenburg“, so Gozé-Diemar. „Ein Kursteilnehmer ist kürzlich mit einer Gruppe nach Salzburg gefahren – vorher ist er nur Rad gefahren und hat sich nicht mal getraut, sein Viertel zu verlassen.“

Kurse haben freie Kapazitäten

„Rein von den Zahlen her müsste man uns die Bude einrennen“, sagt Andreas Dölle. Doch in den Kursen sitzen aktuell nur zwölf Teilnehmende. Umso wichtiger ist für die Volkshochschule Erfurt Netzwerkarbeit – zum Beispiel mit dem Mehrgenerationenhaus am Moskauer Platz, wo ein Alphabetisierungsprojekt des Vereins MitMenschen läuft, dem Caritasverband und dem Bildungswerk Thüringer Wirtschaft. „Wir gehen in Institutionen, von denen wir denken, dort könnten Menschen mit Lese- und Schreibproblemen auflaufen, und sensibilisieren dort die jeweiligen Kontaktpersonen“, so Dölle.

Wer selbst Schwierigkeiten mit dem Lesen oder Schreiben hat oder sich eine Beratung wünscht, kann sich direkt an die Volkshochschule wenden – telefonisch unter 0361 655-2965, per E-Mail an volkshochschule@erfurt.de oder persönlich in der Schottenstraße 7. „Wir helfen weiter. Nicht jeder will an einem Kurs teilnehmen, aber es gibt auch andere Möglichkeiten“, sagt Dölle.

Auch die Thüringer Grundbildungs-Hotline 0800 8989789 steht für Interessierte zur Verfügung unter. Weitere Angebote zur Grundbildung in Erfurt und ganz Thüringen finden sich unter www.hier-lerne-ich.de.