Ungewohnte Klänge am ungewöhnlichen Ort
Es ist beinahe gute Tradition, dass das Festival Yiddish Summer Weimar unter dem Anhängsel "goes Erfurt" auch in der benachbarten Landeshauptstadt Station macht und dort über drei Wochen einen breitgefächerten Querschnitt seines Programms zur Aufführung bringt. Nicht zuletzt bietet Erfurt mit der Alten und der Kleinen Synagoge authentisches Gemäuer als würdigen Rahmen für die Veranstaltungen und mit dem Zughafen und dem Rathausfestsaal auch Aufführungsorte, die jugendliches und respektive reiferes Publikum gleichermaßen ansprechen.
Und so lud das Festival unter dem jiddischen Titel „Arestantnlider“ nach der Weltpremiere am Vorabend in Weimar zu einem denkwürdigen Konzertabend in die Alte Synagoge nach Erfurt, um „Ungehörtes hören“ zu lassen. Der Einladung folgten etwa nur 30 Denkwillige, was schade ist, so muss man sagen, denn der Abend war im besten Sinne des Wortes unbeschreiblich. Ich will es dennoch versuchen.
Wie zu erfahren war, hatten sich die französische Klarinettistin Martine Goldwasser, die auch ausgezeichnet flötete und sang, der deutsche, auch gitarrespielende Kontrabassist Thomas Fritze und der US-amerikanische Fiedler Craig Judelman erst sechs Tage vorher zu dem kanadischen Akkordeonist Josh Dolgin gesellt, der als Kopf des Ganzen auch E-Piano spielte, sang, die elektronische Rhythmusgruppe bediente und das Ganze arrangierte, zu Höchstleistungen antrieb und zusammenhielt, um etwas Neues zu schaffen, eine neue yiddische Kultur.
Inspiriert durch bisher unbekannte, wunderschöne Aufnahmen jiddischer Lieder, die vor über 100 Jahren im Ersten Weltkrieg von osteuropäisch-jüdischen Kriegsgefangenen gemacht wurden, eben jener „Arestantn“, um verschiedene jiddische Dialekte (moldawisch, litauisch beispielsweise) festzuhalten, nahmen die Künstler diese als Basis, untersetzten sie mit rhythmischem E-Schlagzeug unterschiedlicher Ausprägung und addierten ihre jeweiligen Instrumente dazu, bis ein eindringlicher, meist intensiver werdender und zu einem Höhepunkt aufschaukelnder Klangteppich entstand, der sich auch immer wieder mit inbrünstigem Gesang abwechselte, man verzeihe mir – mangels Alternative – diesen archaischen Begriff.
Das Ganze hatte dabei durchaus augenzwinkernden Workshop-Charakter. Am Anfang und nach der Pause trudelten die Musiker so nacheinander ein, griffen ihr Instrument, suchten ihre Stimme und setzten ein. Als eine Zuschauerin im ob der außerhalb vorherrschenden Hitze gottseidank klimagekühlten Gemäuer nieste, wünschte ihr Josh am Klavier inmitten des Stücks laut „Gesundheit“. Und obwohl einem alles irgendwie bekannt vorkam, die Klezmermusik stand als übergreifender Rahmen immer im Raum, wurde diese mal mit Rock (lautes Bumm, bumm, tschick im Schlagzeug), Rap, Tanz, Tango, eindringlichem jiddischen Gesang, deutschem Volkslied bis hin zum Honky Tonk kombiniert, wobei immer wieder jedes einzelne Instrument höchst virtuos zur Geltung kam. Insbesondere sei hier die vorzügliche Martine Goldwasser erwähnt, deren Kaskaden auf Flöte und Klarinette einen schwindelig spielten.
Durchaus im Brechtschen Sinne gebrochen wurden die Wohlklänge immer wieder durch das inszenierte, militant-gefängnismäßige Abfragen der Personalakte eines jeden der Künstler, die dafür auf einem separaten Stuhl Platz nahmen.
So entstand tatsächlich eine neue, keinem Musikstil zuordenbare, durchaus gelungene Mischung aus Elektronik, Live-Musik, wobei jeder jeweils „seine Musik“ einbringt, traditionellem Klezmer, Originalaufnahmen inklusive authentischem Knistern und heftigem Schlagzeug aus der Konserve, eine Art klezmerisches Gesamtkunstwerk. Lediglich die Versuche, das Publikum zum Mitklatschen zu animieren, schlugen weitgehend fehl, weil die Rhythmen wohl etwas zu kompliziert oder zu schnell für die ansonsten durchweg begeisterten Zuhörer waren.
Fazit: Interessant, betörend, mitreißend, denkwürdig … Klasse!