„Geläuff“ und „Narrenwerk“: Von den harschen Worten eines Reformators. „Luther in Erfurt“ (15) lädt zum Pilgern ins Volkskundemuseum ein
Pilger(n): Auf der Suche nach dem Glück“
Aufmerksamen Besuchern der aktuellen Sonderausstellung des Museums für Thüringer Volkskunde „Pilger(n): Auf der Suche nach dem Glück“ entgeht es nicht: Ausstellungsobjekte und –texte vereinen auf den ersten Blick harmonisch die Geschichte und die Gegenwart des Pilgerns. Doch der Widerspruch zwischen Luthers Ablehnung der Pilgerfahrt und der heutigen protestantischen Praxis ist natürlich ein Thema, welches immer wieder nachgefragt wird und nicht ganz einfach zu erläutern ist. Der Hinweis, dass die „Reformatorenkritik“ längst Geschichte ist und sich die Zeiten gewandelt haben, reicht da nicht aus.
Seit jeher hatte die kirchliche Obrigkeit – und auch einfache Leute – ein gespaltenes Verhältnis zum Pilgern und Wallfahrten. Schon in den 1180er Jahren äußert eine Frau aus Siegburg das, was Luther Jahrhunderte später ähnlich sagte: „Wenn Pferde- und Ochsenknochen als Reliquien von Heiligen ausgegeben und durch die Welt getragen werden, ist es sinnlos, ihnen zu Ehren aufzustehen oder ihnen entgegenzugehen.“ (Ohler 2003, 33) Die Dame soll daraufhin blind geworden und erst nach aufrichtiger Reue am Grab des Heiligen Anno geheilt worden sein. Um 1500 entwickelt Johannes von Paltz, Erfurter Augustinereremit und späterer Lehrer Martin Luthers, eine kritische Wallfahrtstheologie: Er unterscheidet zwischen den lobenswerten, von der Kirche gebilligten, Fernpilgerfahrten ins Heilige Land, nach Rom, Santiago de Compostela, Köln, Trier, Aachen und Einsiedeln. Die damals unzähligen kleinen Nahwallfahrten hingegen habe der Teufel inszeniert, um die Christen vom Besuch der eigenen Pfarrkirche abzulenken. Von dieser Krankheit müsse man sich heilen, u. a. indem man der Versuchung des „Wallens“ tapfer wiedersteht und den Rat guter Menschen beherzigt. Auch könne man - quasi als Medizin - ein Kruzifix anschauen, Ruhe bewahren oder schlafen gehen!
Was Martin Luther nicht behagte, waren der mit dem Pilgern verbundene Reliquienkult und die Ablasserlangung: vollkommener oder teilweiser Sündenerlass durch Geld und das „Werk“ der Buße. Gott in seiner Gnade, so Luthers Botschaft, verzeiht alle Sünden und begehrt nichts dafür „als dass man fortan ein gutes Leben führt“ (Kühn 2007, 297), im Einklang mit der Bibel. Deshalb ist für ihn das Pilgern auch ganz alltagspraktisch gesehen nicht vertretbar: Denn Christenmenschen ist geboten, dass ein Mann für seine Frau und seine Kinder sorge – und nicht etwa „dass einer nach Rom wallfahrt und fünfzig, hundert, mehr oder weniger Gulden verzehrt … und lässt seine Frau und seine Kinder oder überhaupt seinen Nächsten daheim Not leiden“ (Kühn 2007, 297).
1510 war Luther als Mönch selbst nach Rom gepilgert, die Erfahrungen fließen in die Auseinandersetzungen mit dem Thema Pilgern ein. Über Jahrzehnte entwickelt Luther seine Wallfahrtskritik. Sie bringt das Pilgern in den reformatorischen Gebieten für lange Zeit ins Aus.
Doch das durch die Jahrhunderte wirkende Potential seiner Kritik ist nicht zu übersehen: Evangelisches Pilgerverständnis – so man es denn jetzt überhaupt noch solcherart eingrenzen kann - sieht das Leben eines Christen als Pilgerfahrt zu Gott, was Nächstenliebe, Wirken für Frieden und die Bewahrung der Schöpfung selbstverständlich einschließt. Weil Gott sich in der Welt zeigt, gehört zum Einstieg und zur Pflege des Glaubens unbedingt die sinnliche Erfahrung, besonders die Erfahrung der Natur, des eigenen Leibes und der Gemeinschaft. All dies hält das Pilgern bereit und aus diesen Prämissen entwickelten sich die evangelischen und ökumenischen „modernen Formen" des religiös motivierten Gehens. Die Friedensmärsche der evangelischen Christen in Ost und West während der 1970er und 1980er Jahre gehören dazu, mit Beginn der 1990er Jahre mehrtägige ökumenische Pilgergänge und monatliches Samstagspilgern mit geistlichem Rahmen, die Wiederbelebung der Jakobswege als europäische Kulturroute gemäß des Aufrufes des Europarates seit 1987. Herausragend in Mitteldeutschland ist der Ökumenische Pilgerweg (2003 initiiert von der evangelischen Religionspädagogin Esther Zeiher), der sich zwischen Görlitz und Vacha am Verlauf der historischen Via regia orientiert. Einmalig ist sein lückenloses Herbergsnetz, getragen von Kirchengemeinden unterschiedlicher Konfession, Privatpersonen, Ordensgemeinschaften, gemeinnützigen Einrichtungen.
Die Liste der Pilgerwege, die Mitteldeutschland heute (wieder) durchziehen, ist lang und jeder Weg hat seinen eigenen Charakter. In der Sonderausstellung des Museums für Thüringer Volkskunde und anhand der Informationskarte „Pilgern in Mitteldeutschland“, herausgegeben vom Ökumenischen Pilgerweg e. V. und derzeit an der Museumskasse erhältlich, ist mehr darüber zu erfahren.
Literatur (Auswahl):
Christoph Kühn, Von der Wittenberger Reformation zu den Ökumenischen Pilgerwegen. Evangelische Erfahrungen und Kritik des Pilgerns im Horizont von Konfessionalisierung und Ökumene, in: Der Jakobuskult in Sachsen, hrsg. v. Klaus Herbers und Enno Bünz, Tübingen 2007, S. 291-324.
Norbert Ohler, Pilgerstab und Jakobsmuschel: Wallfahren in Mittelalter und Neuzeit, Düsseldorf 2003.
Detlef Lienau, Lutherisch Pilgern: Luthers Wallfahrtskritik als Wegweiser für heutiges Pilgern, http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/index.php?a=show&id=3837 (abgerufen 20.07.2017)
Museum für Thüringer Volkskunde, Fragebogenaktion in Vorbereitung der Sonderausstellung „Pilger(n): Auf der Suche nach dem Glück“