Miriams Tagebuch. Die Geschichte der Erfurter Familie Feiner
Miriams Tagebuch. Die Geschichte der Erfurter Familie Feiner
Sonderausstellung in Kooperation mit dem Freundeskreis Yad Vashem e.V.
„Ich war 6 Jahre alt, als wir nach Erfurt zogen. [...] Es ging uns sehr gut. Lotte und ich wuchsen heran und in dem Alter, wo man aufhört, Kind zu sein, kam Hitler und mit ihm Zerstörung, Not und Elend.“
Marion Feiner, die sich nach ihrer Auswanderung aus Deutschland Miriam nannte, schrieb diese Zeilen in ihrem letzten Tagebuch-Eintrag im September 1939 im Kibbutz Ginegar in Palästina. Vier Jahre zuvor hatte sie das Tagebuch an ihrem 14. Geburtstag in Erfurt begonnen. Geboren wurde sie als Tochter von Joseph und Adele Feiner am 10. Dezember 1921 in Berlin. Seit 1928 lebte die Familie in Erfurt. Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, war Marion elf Jahre alt.
Ihr Tagebuch begleitete Marion beim Erwachsenwerden in einer Zeit, die geprägt war von Alltagsantisemitismus, dem Berufsverbot des Vaters und dem Verlust der Eltern. Sie vertraute ihrem Tagebuch an, wie ihr jüdischer Freundeskreis, ihre zionistische Jugendgruppe und ihre Freude an Sport und Kultur ihr halfen, sich zu behaupten und sich vor der Verfolgung zu retten. Anfang 1938 wanderte die 16-jährige Marion in das britische Mandatsgebiet Palästina aus, kurz nach ihrer zwei Jahre älteren Schwester Charlotte, die sich dort Jael nannte.
Ihren Eltern Joseph und Adele Feiner wurde eine Einreise nach Palästina verwehrt. Sie wurden am 28. Oktober 1938 in der sogenannten „Polenaktion“ aus Deutschland ausgewiesen. Die Massenabschiebung nach Polen betraf 17.000 Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit, darunter etwa 100 Erfurterinnen und Erfurter. Die Feiners lebten ab Juli 1939 bei Verwandten in Lwów. Von dort aus bemühten sie sich weiter um eine Auswanderung nach Palästina.
Mühsam hielten Eltern und Kinder Kontakt über Postkarten. Ende Juni 1941 besetzten die Deutschen Lwów. Sie begannen sofort mit der Verfolgung der dort lebenden Jüdinnen und Juden und ermordeten fast alle von ihnen. Unter den rund 120.000 Opfern waren Joseph und Adele Feiner. Ihr letztes Lebenszeichen war eine Postkarte an ihre Tochter Miriam vom 21. März 1941.
Das Tagebuch
Ein Tagebuch ist ein intimer Text, geschrieben nur für sich selbst und eigentlich nicht für andere Augen bestimmt. Es hält Erlebnisse und Gefühle im Moment des Schreibens fest und hilft dem oder der Schreibenden, sie zu verarbeiten. Das Tagebuch von Marion Feiner ist ein solches persönliches Dokument und gleichzeitig viel mehr als das. Es ist ein außergewöhnliches Zeugnis der Shoah und des Aufbruchs in ein neues Leben in Palästina.
Dalia Ziv, die Tochter der Schreiberin, übergab das Buch zusammen mit weiteren persönlichen Unterlagen an die Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem. Von dort kehrte es 2023 für die Ausstellung „Sechzehn Objekte. Siebzig Jahre Yad Vashem“ nach Deutschland zurück und wurde im Deutschen Bundestag und auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein in Essen präsentiert. Dieses Projekt des Freundeskreises Yad Vashem e.V. und der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem wurde für die Stadt Erfurt, aus der Marion und ihre Familie 1938 vertrieben wurden, zur Inspiration, ihre Geschichte zu erforschen und in einer Sonderausstellung des Erinnerungsortes Topf & Söhne zu erzählen.
In der Ausstellung sind alle Seiten des Tagebuchs in der originalen Handschrift auf Tablets zugänglich. Gleichzeitig können die transkribierte Druckschrift und Erläuterungen von jiddischen und hebräischen Begriffen abgerufen werden, so dass der Inhalt gut verständlich ist. Zugleich wird das Tagebuch in einer originalgetreuen Nachbildung ausgestellt.
Im Juni 2023 wird das Original für kurze Zeit in Erfurt zu sehen sein. Über 87 Jahre liegen zwischen dem Tag, als Marion zu Hause in der Kruppstraße 11 (heute Klausener Straße 11) die ersten Worte in das Tagebuch schrieb, und seiner Rückkehr nach Erfurt. Wenige hundert Meter von der Familienwohnung entfernt, wird es nun ein berührendes Objekt in der Ausstellung am Erinnerungsort Topf & Söhne sein.
Über die Objekte in der Sammlung der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem hinaus stellten die Nachkommen von Miriam Ziv, geborene Feiner, dem Erinnerungsort Topf & Söhne private Fotos und persönliche Unterlagen für die Ausstellung zur Verfügung. Auf der Basis der Forschungsarbeit von Jutta Hoschek und der Forschungsgruppe Geschichte der Juden im nationalsozialistischen Thüringen sowie eigenen intensiven Recherchen gelang es, ein lebendiges und anschauliches Bild der Geschichte einer Familie zu zeichnen, deren Schicksal exemplarisch für die jüdische Bevölkerung Erfurts als Teil einer vielfältigen Stadtgesellschaft und deren Ausgrenzung und Vernichtung im Nationalsozialismus steht.
Miriams Botschaft
Miriam Ziv reiste fast 60 Jahre nach ihrer Auswanderung zum ersten Mal wieder nach Deutschland. Vom 31. August bis 7. September 1997 war sie Gast bei einer städtischen Begegnungswoche jüdischer Überlebender. „Meine so schöne Stadt Erfurt zu sehen“, berührte sie tief, wie sie danach in einem Brief an Oberbürgermeister Manfred Ruge schrieb. Aus diesem Besuch erwuchsen langjährige Freundschaften. Die Briefe, die Miriam Ziv danach über Jahre nach Thüringen schrieb, konnten für die Ausstellung ausgewertet werden. Der Kontakt mit Menschen in Erfurt, die sich mit Forschungs- und Bildungsprojekten dem Verdrängen und Vergessen der antisemitischen Gewalt im Nationalsozialismus entgegenstellten, ließ Miriam Ziv hoffen, „dass diese Jugend so bleiben wird und nie diese grauenhaften Zeiten zurückkommen können.“ (Brief von Miriam Ziv, Kibbutz Degania B, an Helma Bräutigam, Erfurt, 14. Dezember 2000).
Die nationalsozialistische Vertreibung aus Deutschland führte oft zum Abbruch der historischen Spuren, weil Informationen über das Schicksal der Menschen nach ihrer Auswanderung oder Flucht aus Deutschland schwer zu finden sind. Umso wertvoller ist es, dass die Geschichte von Miriam Ziv dank der Abbildungen und Dokumente aus dem Familienbesitz in Israel und ihrer Briefe nach Erfurt in der Ausstellung bis zu Ende erzählt werden kann. Es wird über ihr Leben nach der Gründung einer eigenen Familie in Palästina/Israel berichtet und ihre Botschaft verdeutlicht.
Der Erinnerungsort Topf & Söhne versteht es als Auftrag, was Miriam Ziv in einem Brief an eine Erfurter Geschichtslehrerin und ihre Schülerinnen formulierte: „Durch eure Taten, hoffe ich doch, dass es noch viele andere gibt, die es vermeiden werden, dass so etwas nochmal passieren kann.“ (Brief von Miriam Ziv, Kibbutz Degania B, an Bettina Ilse, Erfurt, 29. Dezember 2000). Miriam Ziv starb am 5. Mai 2012 im Kreise ihrer Familie im Kibbutz Degania B in Israel.
Ihre Familie bei der Ausstellungseröffnung
An der Ausstellungseröffnung nahmen Dalia Ziv, die Tochter von Miriam Ziv, sowie Yoni und Ehud Saly, die Söhne von Miriams Tochter Drora, teil. Diese Begegnung war für das Team und die Gäste des Erinnerungsortes Topf & Söhne sehr bewegend und bereichernd. Nach ihrer Rückkehr nach Israel bedankten sich die Dalia Ziv und Yoni und Ehud Saly in einer Mail mit folgenden Worten (übersetzt aus dem Englischen):
„Liebe Annegret, uns fehlen die Worte, um die Erfahrung zu beschreiben, die wir während unseres Besuchs im Museum unter Ihrer Leitung und mit der Unterstützung Ihrer lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemacht haben. Sobald wir Sie kennengelernt hatten, fühlten wir uns wie zu Hause.
Ihre allgemeine Kenntnis der Geschichte unserer Familie und insbesondere der unserer Großmutter war wie ein Vorspiel zu einer lange erwarteten Begegnung. Und endlich haben wir uns getroffen und es war so schön. Die Atmosphäre, die Sie auf uns regnen ließen, war so warm und mitreißend und sie fühlte sich so richtig und passend für Miriam und deren Temperament an. Wir sind sicher, dass sie, wenn sie bei uns gewesen wäre, dasselbe empfunden hätte. Außerdem war die Zeremonie so bewegend und hat es geschafft, die Erinnerung der Familie und die kollektiven Schlussfolgerungen aus ihrer Geschichte angemessen zu vermitteln.
Überdies hat es einfach Spaß gemacht und war angenehm, Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennenzulernen. Wir sind Ihnen wirklich dankbar für all die Studien und Nachforschungen, die Sie zu diesem Thema angestellt haben, und für den Empfang und die Gastfreundschaft, die Sie uns entgegengebracht haben. Vielen Dank für alles und viel Glück bei allem, was Sie tun. Wir werden gerne in Kontakt bleiben.
In Dankbarkeit und Freundschaft, Yoni, Dalia und Ehud.“
Weitere Informationen
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