Jüdische Gemeinden
Die erste, zweite, dritte und vierte jüdische Gemeinde in Erfurt
Im Mittelalter war Erfurt eine der größten Städte des Heiligen Römischen Reiches und ein wirtschaftliches und geistig-kulturelles Zentrum. In Erfurt trafen wichtige Handelswege von Süden nach Norden auf die via regia, die mittelalterliche West-Ost-Verbindung. Hier konzentrierte sich darum der Handel, vor allem mit Waid und verhalf der Stadt zu wirtschaftlicher Blüte. Spätestens seit dem 8. Jahrhundert war die Stadt auch ein bedeutendes geistliches Zentrum.
In diesem Umfeld entwickelte sich eine der angesehensten mittelalterlich-jüdischen Gemeinden, deren Anfänge im späten 11. Jahrhundert liegen. Im hohen Mittelalter war sie bereits ein wesentlicher wirtschaftlicher und geistig-kultureller Faktor der Stadt mit bedeutenden Gelehrten und wohlhabenden Händlern. Das jüdische Viertel, in dem Christen und Juden nebeneinander wohnten, lag mitten im Zentrum der Stadt, an der Kreuzung der Handelsstraßen. Trotz Konflikten und einzelner gewaltsamer Übergriffe auf die jüdischen Bürger der Stadt entstand ein fruchtbares Miteinander von christlichen und jüdischen Einwohnern.
1309 verteidigten sogar Juden und Christen gemeinsam ihre Stadt während einer Belagerung durch den Landgrafen von Thüringen.
Diese Blütezeit der ersten jüdischen Gemeinde Erfurts fand am 21. März des Jahres 1349 ihr jähes Ende in einem Pogrom. In der Folge eignete sich die Stadt die Grundstücke und zurückgelassenen Besitztümer ihrer ehemaligen jüdischen Bürger an.
Doch bereits 1354 siedelten sich wieder jüdische Familien in Erfurt an, denen der Rat neue Häuser bauen musste. Auch eine neue Synagoge wurde 1357 durch die Stadt errichtet, da die alte Synagoge nach dem Pogrom in christlichen Besitz übergegangen war.
In den folgenden Jahrzehnten wuchs die zweite Erfurter jüdische Gemeinde schnell und erlangte erneut überregionale Bedeutung. Im Frühjahr 1453 erklärte der Erfurter Rat, dass er die Juden nicht weiter schützen könne und wolle und binnen eines Jahres verließen die letzten jüdischen Familien die Stadt. 1458 erlaubte der Mainzer Erzbischof der Stadt Erfurt gegen eine Abschlagzahlung, keine Juden dulden zu müssen.
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts weigerte sich die Stadt, wieder Juden aufzunehmen. Erst, nachdem Erfurt an Preußen gefallen war, kamen jüdische Kaufleute wieder in die Stadt. Sie mussten aber einen so genannten Juden-Leibzoll zahlen. Mit dem Einzug Napoleons wurde dies wieder abgeschafft und 1810 dem ersten Juden das städtische Bürgerrecht verliehen. Kurz darauf wurden die inzwischen dazu gekommenen Juden als kirchliche Gemeinschaft anerkannt. Sie legten einen neuen Begräbnisplatz an – heute erinnert ein Gedenkstein in der Cyriakstraße daran – und richteten in einem Privathaus einen Betraum ein. 1840 entstand die Synagoge an der Stadtmünze, die heute als Kleine Synagoge bekannt ist.
1854 – die Gemeinde zählte mehr als 150 Personen – erhielt sie die bürgerliche Gleichstellung, damit die staatliche Anerkennung und die juristische Selbständigkeit.
1856 erfolgte die Gründung eines jüdischen Frauenvereins zur Hilfe für Bedürftige. Nun begann der Aufstieg. Die Gemeinde wuchs schneller. Einige ihrer Mitglieder hatten Nutzen von der Industrialisierung und erarbeiteten sich einen unübersehbaren Platz sowohl im Wirtschafts- als auch im Geistesleben der Stadt.
Selbst in der politischen Verwaltung waren sie vertreten. Sie wurden Rechtsanwälte, Ärzte, Industrielle, Handwerker, Lehrer, Bankiers, Verleger. So gründete Prof. Machol das Klinikum Erfurt, eine Büste erinnert noch heute daran. Namen wie Benary, Heß, Moos, Pels, Lamm und viele weitere waren weithin bekannt.
Mit diesem Prozess ging auch eine gewisse Assimilierung einher. Das wirkte sich auch auf das jüdische Gemeindeleben und die Gestaltung der Kultureinrichtungen aus. Die Gemeinde wurde liberal.
Als der Friedhof in der Cyriakstraße, heute Alter Jüdischer Friedhof, zu klein wurde und sich nicht erweitern ließ, wurde 1871 ein Stück Land beim Schützenhaus gekauft. 1878 erfolgte dort die erste Bestattung. Dieser Friedhof dient der Gemeinde noch heute und wird als Neuer Jüdischer Friedhof bezeichnet.
1884 wurde die heutige Kleine Synagoge zu klein und am Ententeich die „Große Synagoge“ eingeweiht. Der Kuppelbau mit 500 Plätzen wurde in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 von Nationalsozialisten geplündert und anschließend angezündet. Das verwendete Benzin sowie den Abriss der ausgebrannten Ruine mussten die Juden selbst bezahlen.
In der gleichen Nacht wurden 197 jüdische Männer verhaftet, in die Turnhalle der Humboldtschule gebracht, dort gefoltert und anschließend in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert.
1932 lebten in Erfurt 1.290 Einwohner und Einwohnerinnen mit jüdischem Glaubensbekenntnis. Nach der Übertragung der Macht an die deutschen Faschisten ergaben die Volkszählungen im Juni 1933 noch 831, im Mai 1939 nur noch 263. Die Mitglieder der Erfurter Synagogengemeinde und darüber hinaus alle als Juden geltenden Menschen wurden ausgegrenzt, verfolgt, ausgeraubt, zur Flucht oder in den Freitod getrieben. Das Gedenkbuch "Ausgelöschtes Leben" umfasst 453 Kurzbiografien von als Juden verfolgten Menschen, die zwischen 1933 und 1945 in Erfurt gemeldet waren und nachweislich gewaltsam zu Tode kamen. Auch von den Ausgewanderten überlebten nicht alle.
Nur wenige Mitglieder der Erfurter Gemeinde haben in den Ghettos und den Vernichtungslagern überlebt, insbesondere diejenigen, die erst Ende Januar 1945 deportiert worden waren. Eine kleine Gruppe kehrte im Juni 1945 aus dem KZ Theresienstadt nach Erfurt zurück. Diese waren maßgeblich an der Neugründung der Gemeinde beteiligt.
Bei so wenigen jüdischen Bürgern war die Erfurter Gemeinde auf Zuwachs aus anderen Orten oder Ländern angewiesen. Schlesische, v. a. Breslauer Juden kamen damals nach Thüringen, wie auch aus KZ befreite osteuropäische Juden. Sie blieben vorerst hier und so entstanden jüdische Gemeinden in Erfurt, Mühlhausen, Eisenach, Gera und Jena.
Zusammengefasst waren die Gemeinden im Landesverband Thüringen. Die ersten Jahre fand das jüdische Leben in Erfurt in gemieteten Räumen am Anger 30/32 statt. Allerdings wanderte eine größere Gruppe von Gemeindemitgliedern in das gerade gegründete Israel aus. Das fast endgültige Aus für die Gemeinde kam 1953. Die politische Situation in Ostblock eskalierte. Bei antisemitischen Prozessen in Prag und Moskau ergingen willkürliche Todesurteile für angeklagte jüdische Intellektuelle. Auch die Verunglimpfung des jüdischen Staates führte zu einer Fluchtwelle von etwa zwei Drittel aller in der damaligen DDR lebenden Juden. Damit waren die Gemeinden zum Aussterben verurteilt.
Übrig blieb nur die jüdische Gemeinde in Erfurt, die anderen Gemeinden in Thüringen wurden aufgelöst. Auch die am 31.8.1952 eingeweihte Neue Synagoge in Erfurt verwaiste mehr und mehr…
Mit der politischen Wende kam auch eine für die jüdische Landesgemeinde in Erfurt. Zu Zugängen aus den alten Bundesländern kamen nun zahlreiche jüdische Aussiedler aus der Sowjetunion. Deren circa 2,5 Millionen Juden erlaubte man die Auswanderung. Ein großer Teil ging nach Israel, ein Teil wanderte in die DDR aus. Nach und nach stiegen so die Mitgliederzahlen.
Heute zählt unsere Gemeinde etwa 800 Mitglieder, von denen ungefähr 500 in Erfurt leben.
Struktur
Die jüdische Gemeinde ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und trägt den Namen „Jüdische Landesgemeinde Thüringen“. Sie ist der Zusammenschluss aller im Freistaat Thüringen lebenden Juden. Der Sitz der Landesgemeinde ist in Erfurt.
Die Aufgaben der Gemeinde bestehen in der religiösen, sozialen und kulturellen Betreuung der Gemeindemitglieder.
Die Tätigkeit der Gemeinde stützt sich auf die Satzung, die von der Gemeindeversammlung verabschiedet wurde.
Laut Satzung können alle Personen Mitglied der Jüdischen Landesgemeinde werden, die nach dem jüdischen Religionsgesetz (Halacha) Juden sind und im Freistaat Thüringen ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Organe der Landesgemeinde sind
- die Gemeindeversammlung
- der Vorstand
An der Gemeindeversammlung können alle stimmberechtigten Gemeindemitglieder teilnehmen. Alle drei Jahre wird in geheimer Wahl der Vorstand gewählt. Der Vorstand besteht aus einem Vorsitzende, zwei Stellvertretern und zwei Beisitzern. Die Tätigkeit des Vorstandes ist ehrenamtlich. Der Vorstand ist die gesetzliche Vertretung der Landesgemeinde.
Außer dem gewählten Organ – dem Vorstand – existiert auch eine Gemeindeverwaltung. Sie befasst sich mit allen Problemen des alltäglichen Lebens, die mit der Gemeinde direkt oder indirekt zu tun haben.
Objekt | Adresse |
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Bildungs- und Kulturzentrum der Jüdischen Landesgemeinde | Juri-Gagarin-Ring 21, 99084 Erfurt |
Jüdische Landesgemeinde Thüringen | Max-Cars-Platz 1, 99085 Erfurt |
Jüdischer Friedhof | Werner-Seelenbinder-Straße 3, 99096 Erfurt |