Zauberhafte Geschichten über die kleinen Freuden des Alltags

18.09.2024 08:01

Die Preisträgerinnen und Preisträger des 28. Schreibwettbewerbs „Federlesen“ stehen fest. Rund 50 Einsendungen waren zum Thema „Magie des Alltags“ eingegangen, sechs von ihnen wurden von einer vierköpfigen Jury ausgewählt und prämiert. Vorgestellt wurden die Texte am 17. September im Kulturhaus Dacheröden.

Preisträgerinnen und Preisträger des 28. „Federlesens“ ausgezeichnet

mehrere Personen bekommen Urkunden und Blumen überreicht
Foto: Am 1 Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

„Die eingesendeten Beiträge erinnern uns daran, dass der Zauber oft in den kleinen Dingen des Alltags liegt“, sagte Roland Richter, Vorsitzender des Seniorenbeirats, der den Schreibwettbewerb für alle Altersgruppen seit 1997 organisiert. Und so erzählten die Autorinnen und Autoren von vermeintlich unscheinbaren Momenten und Gesten, die in der Hektik des Alltags für Freude sorgen: vom Duft eines frischen Kakaos, einem „Gartenzwerg“, der die Augen eines Dreijährigen zum Leuchten bringt, und einem kleinen Schatz, der trotz seines überschaubaren finanziellen Werts die Finderin stolz und glücklich macht. „Manche dieser Geschichten regen uns zum Denken an, andere lösen ein Schmunzeln oder Lachen aus“, sagte Richter, der die stilistische Bandbreite und Experimentierfreudigkeit der Autorinnen und Autoren würdigte.

Die Beiträge wurden in einer Broschüre veröffentlicht und sind hier online nachzulesen. Nachlesen, in denen die Texte noch einmal vorgestellt werden, sind in Planung.

Im nächsten Jahr dreht sich das Thema in der 29. Auflage des Schreibwettbewerbs „Federlesen“ rund um Erinnerungen aus der eigenen Schulzeit. Details dazu werden Anfang 2025 veröffentlicht.

Prämierte Beiträge

Dr. Kerstin Voigt: „Vergissmeinnicht“

Ein lautes Knacken, dann krachte es und mein Vater war plötzlich fünfzehn Zentimeter kleiner. Ein Fußbodenbrett war unter ihm durchgebrochen. Während meine Mutter nach spitzem Aufschrei zu Schaufel und Besen rannte, sagte mein Vater bedeutungsvoll: „Nun muss aber wirklich etwas passieren.“ Die Reparatur der Dielen, die an mehreren Stellen in unserer Wohnung gefährlich nachgaben, war überfällig. Bei mir, der verträumten Elfjährigen, machte es Klick. Das war doch die Gelegenheit! Die Nachbarin hatte es erzählt, die Lehrerin auch. Eine feine Dame, eine Gräfin, vielleicht war sie sogar eine Prinzessin, habe vor über hundertfünfzig Jahren in diesem Haus gewohnt. Niemand sollte wissen, wer diese Dame wirklich war, deshalb trug sie einen Schleier, wenn sie ausging, was selten vorkam. Mit der Kutsche sei sie ausgefahren worden. Die „Dunkelgräfin“ habe man sie genannt, weil ein dunkles Geheimnis sie umgab. Sie wohnte im ersten Stock - jetzt wohnten wir da, jedenfalls in einem Teil ihrer Räume. Viel mehr bedurfte es nicht, um meine Fantasie zu beflügeln. Vielleicht hat sie in diesen Räumen etwas versteckt? Etwas Geheimes, gar einen Schatz?

Um das herauszufinden, hatte ich mit Abklopfversuchen an den Wänden begonnen. Sie waren mir allerdings sofort wieder untersagt worden. Schon bei einem ersten Versuch hatten sich Risse im Lehm-putz gebildet, wie meine Eltern entsetzt feststellen mussten. So behindert in meinem Forscherdrang verlegte ich mich zunächst darauf, beim Kehren des Treppenhauses die Holzstufen akribisch zu untersuchen. Was die Wohnung betraf, da musste ich auf eine bessere Gelegenheit warten. Jetzt war sie da!

Ein Handwerker kam, um sich den Schaden anzuschauen. „Nun lass den Mann doch mal in Ruhe arbeiten!“ Ratlos versucht meine Mutter, mich von der Öffnung im Fußboden wegzuziehen. Kurzzeitig gehorche ich, dann verlege ich mich aufs Bitten. „Mama, lass mich dabei sein! Vielleicht finden wir etwas von der Gräfin oder Prinzessin! Vielleicht hat sie an dieser Stelle etwas versteckt, etwas Geheimes.“ Meine Mutter rollt die Augen. „Woher nimmst Du nur solche Ideen! Du liest zu viel!“ Sekunden später stehe ich wieder neben dem Handwerker. Er versucht, die gebrochenen Teile des Dielenbrettes herauszulösen. Aufmerksam beobachte ich jeden Arbeitsschritt. Was würde unter dem Brett sein?

Endlich löst es sich und nach ein paar Hebelansätzen splittert und kracht es und eine Staubwolke hüllt uns ein. Als sie sich gelegt hat, leuchte ich mit der Taschenlampe in die entstandene Öffnung.

„Na, Kleine, du bist wohl auf Schatzsuche?“, brummelt der Handwerker freundlich. Ich werde rot und nicke. „Hier hat einmal eine Gräfin gewohnt, vielleicht war sie sogar eine Prinzessin.“ „Und Du meinst, die liegt hier unten?“ Er grient, als er mein entsetztes Gesicht sieht. „Nein, aber vielleicht hat sie etwas vergra…, also ich meine, versteckt.“ „Also ich sehe hier nur Dreck,“ sagt der Handwerker lachend.

Er vermaß das Dielenbrett und verabschiedete sich. Später wurde mir erzählt, ich hätte noch im Schlaf meine Daumen in die Fäuste gedrückt. Die Fußbodenreparatur sollte möglichst lange dauern.

Am nächsten Morgen war ich sehr früh wach und schlich sofort in die Küche zur Baustelle. Die am Vortag abgelösten Brettstücke waren nach dem Vermessen und der Inspektion des Unterbaus wieder lose aufgelegt worden. Es gelang mir, ein Stück herauszuheben. Dann nahm ich eine Gabel aus der Besteckschublade. Kniend, in einer Hand die Taschenlampe, in der anderen die Gabel, machte ich mich ans Werk. Ein paar Minuten kratzte und stocherte ich in all dem Staub und Schmutz, der jahrzehntelang in die Spalten zwischen den Dielen gekehrt und gefallen war. Dann stieß die Gabel auf etwas Hartes. Angestrengt versuchte ich, im Schein der Taschenlampe zu erkennen, was es war. Nach mehreren Versuchen hatte ich es aufgespießt. Das Ding war genauso grau und schmutzig wie der Boden unter den Küchendielen. Aber als ich es in der Hand hielt und abgepustet hatte, durchfuhr mich ein freudiger Schreck. Ich hatte ein Schmuckstück gefunden! Es war ein kleiner, filigraner Anhänger in Dreiecksform. Drei Blüten waren darin gefasst. Nur die Öse war abgebrochen. Mit dem Fund in der Faust weckte ich meine Eltern. Sie lächelten, ohne meine Begeisterung zu teilen. Viel wert war das Fundstück nicht. Aber in meiner Fantasie hatte es der Gräfin gehört, ganz bestimmt sogar! Und ich hatte es gefunden! War das nicht magisch?!

Zum Geburtstag bekam ich den Anhänger repariert und an einer zarten Silberkette überreicht. Ich war selig! Meine Gäste staunten und selbst die Erwachsenen beteiligten sich jetzt an Spekulationen über das Schmuckstück. Meine Oma stellte fest, dass es sich bei den drei Blüten ganz sicher um Vergissmeinnicht handelt. Bestimmt habe die Gräfin das Schmuckstück als Amulett bei sich getragen und sei sehr traurig gewesen über den Verlust.

Wen wollte die Gräfin nicht vergessen? Für welche Menschen standen die drei Vergissmeinnicht-Blüten? Oder sollte derjenige, der einst den Anhänger finden würde, die einstige Besitzerin des Amulettes nicht vergessen? Das war magisch!

Jahre später schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Könnte es nicht so gewesen sein, dass meine Mutter den Anhänger hineingelegt hat, damit ich ihn finden konnte? Damit ich nicht enttäuscht würde? Ich habe sie nie gefragt.

Was hätte es geändert? Gezählt hat doch einzig der magische Moment des Findens, und an solchen Momenten dürfen wir uns ein Leben lang wärmen wie an einem kleinen Lagerfeuer.

Wann immer mein Blick auf die Front des Erfurter Hauptbahnhofes fällt, ist das Glücksgefühl über einen magischen Fund unter der Küchendiele sofort lebendig. Warum? Weil dort auf rotem Hintergrund „Schatzkammer Thüringen“ steht.

Dr. Kerstin Voigt, geboren 1959, ist Pfarrerin, war Dozentin für praktische Theologie und bis 2022 als Personalreferentin in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland tätig. Heute lebt sie im Ruhestand in Erfurt.

Margarete Mayer: „Die magische Orange“

Die kleine Henrietta saß ganz am äußersten Rand der Bank, die unter dem kahlen Bäumchen an der Backsteinmauer stand. Sie hatte das Gesicht verzogen und dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Neben der Bank lag ihr Schulranzen im Schnee. An ihren dünnen Beinen trug sie blaue Stiefelchen. Der am linken Fuß sah ganz normal aus, bei dem am rechten Fuß aber klaffte die Sohle ab, wie ein offenes Maul. Und eben das war der Grund für ihren Kummer – sie wusste nicht, wie sie nach Hause laufen sollte, ohne ihren Fuß abzufrieren. Und ihre Mama würde schimpfen, wenn sie mit nassen Füßen herumlief, - denn dann würde sie sich erkälten. Bei dem Gedanken kullerte ein neuer Strom von Tränen über ihr Gesicht, so dass sie gar nichts mehr sehen konnte.

Unversehens drang die Stimme einer alten Frau an ihre Ohren, die unvermittelt vor ihr stand und sie mit scharfen Augen durchdringend anblickte. Mit einer runzligen Hand streckte sie ihr eine prächtige Orange entgegen und raunte: „Diese Orange ist für dich. Sie ist magisch! Wenn du nicht weiterweißt, wird sie dir helfen!“ Völlig verdattert streckte Henrietta ihre Hand aus und nahm die Orange entgegen. Zu spät fiel ihr ein, daß sie eigentlich von Fremden nichts annehmen durfte. Bevor sie sich entschließen konnte, die Orange zurückzugeben, hatte sich die alte Frau schon umgedreht und war weggegangen.

„Diese Orange ist magisch“ - hallte es in ihren Ohren. Genau betrachtet konnte sie – zumindest auf den ersten Blick – nichts Magisches an der Orange erkennen. Sie war groß, das schon, fast vollkommen rund mit einer dicken Schale, die große Poren hatte. Und oben war ein grünes Sternchen – aber das hatten andere Orangen auch. Wie sie duftete! Ob sie sie wohl gleich schälen sollte? Wenn es eine magische Orange war, konnte sich alles Mögliche darin befinden. Ihre Phantasie schlug Purzelbäume. Vielleicht war innen drin ja eine dieser Glaskugeln, sie sie im Schaufenster des Kaufhauses an der Ecke gesehen hatte, mit einer Prinzessin drin, und wenn sie geschüttelt wurde, schneite es innen. So eine Schneekugel hatte sie sich schon lange gewünscht und groß genug war die Orange dafür. Vorsichtig schüttelte sie sie und roch noch einmal daran. Sie duftete wirklich ganz köstlich und sehr verlockend – konnte sie – zumindest auf den ersten Blick – nichts Magisches an der Orange erkennen. Sie war groß, das schon, fast vollkommen rund mit einer dicken Schale, die große Poren hatte. Und oben war ein grünes

Sternchen – aber das hatten andere Orangen auch. Wie sie duftete! Ob sie sie wohl gleich schälen sollte? Wenn es eine magische Orange war, konnte sich alles Mögliche darin befinden. Ihre Phantasie schlug Purzelbäume. Vielleicht war innen drin ja eine dieser Glaskugeln, sie sie

im Schaufenster des Kaufhauses an der Ecke gesehen hatte, mit einer Prinzessin drin, und wenn sie geschüttelt wurde, schneite es innen. So eine Schneekugel hatte sie sich schon lange gewünscht und groß genug war die Orange dafür. Vorsichtig schüttelte sie sie und roch noch

einmal daran. Sie duftete wirklich ganz köstlich und sehr verlockend – nach Orange.

Henrietta war drauf und dran, die Orange hier und jetzt, halb erfroren auf ihrer Bank sitzend, aufzumachen aber dann hielt sie inne. Eine Orange ließ sich gar nicht so einfach schälen und eine magische war möglicherweise auch noch besonders empfindlich und schnell verletzt. Nicht auszudenken! Nein um eine Orange „richtig“ zu öffnen brauchte es Sorgfalt und ein Ritual, das eigentlich nur Papa konnte! Er schnitt oben um das Sternchen herum ein kleines Käppchen ab, ritzte dann die Schale fünfmal der Länge nach in genau gleichen Abständen ein, und sie durfte dann die „Blütenblätter“ – denn so sahen die Orangenschalenteile aus – sorgfältig abpellen. Was immer noch schwer genug war. Henrietta hatte noch keine Orange getroffen, die sich gerne ausziehen ließ. Die beharrten immer darauf, ihre „Unterwäsche“ anzubehalten, dieses weiße Zeugs, das sich hartnäckig an die fruchtigen Orangenspalten klammerte.

Papa schaffte es immer, auch das letzte bittere weiße Häutchen mit geschickten Fingern und Geduld abzuschälen und dann konnte sie die Orange essen. Wie eine magische Orange wohl schmecken würde? Falls nicht doch eine Schneekugel darinnen war, wie sie heimlich hoffte.

Ohne irgendeinen Gedanken an ihren kaputten Stiefel zu verschwenden, war Henrietta, ganz in diese Vorstellung versunken, aufgestanden und hatte den Rest ihres Heimweges in Angriff genommen. Teils schlurfte sie, teils hüpfte sie auf einem Bein, ignorierte ihre nasse Socke und war schneller als gedacht vor ihrer Haustür angekommen, wo sie Sturm klingelte.

Papa war zuhause und öffnete die Tür. Noch bevor er ein Wort sagen konnte, sprudelte sie ihm die ganze Geschichte entgegen: Wie ihr Schuh kaputt gegangen war und sie sich auf die Bank gesetzt und geweint hatte, weil sie nicht mehr weiter wusste, wie die alte Frau gekommen war und ihr eine magische Orange geschenkt hatte und dass Papa diese unbedingt und jetzt sofort, ganz gleich, in dieser Minute, mit ihr öffnen musste, denn sie wollte doch so dringend wissen, was darinnen war ... Als sie endlich Luft holen musste, lächelte Papa: „Erst wollen wir dich mal aus deinen nassen Sachen schälen, danach schälen wir die Orange.“

Als sie dann endlich am Küchentisch saßen, Papa das Orangenkäppchen abgeschnitten und die fünf Blütenblätter eingeschnitten hatte und sie mit dem Abpellen der Schale anfing, merkte sie gleich, dass keine Schneekugel mit Schloss und Prinzessin im Inneren der Orange war, sondern dass das, was sich herausschälte ganz normal aussah, wie andere Orangenspalten auch. Wie die wohl schmecken würden? Vielleicht nach Erdbeeren! Erdbeeren mochte sie eigentlich viel lieber als Orangen und immerhin war es ja eine magische Orange – die konnte gut und gerne zum Beispiel nach Erdbeeren schmecken! Nachdem Papa auch noch das letzte weiße Zeugs um die Orangenspalten herum weg gezupft und die Orange schön zerlegt hatte, probierte sie erwartungsvoll ein Stück. Es war süß und saftig. Sie probierte ein weiteres Stück, dann ein drittes. Kein Zweifel, die Orange schmeckte – nach Orange eben! Nachdenklich musterte sie das vierte Stück.

„Darf ich auch mal probieren?“ Nachdem sie genickt hatte, aß auch Papa ein Stück. „Mmmmh, lecker! So eine süße und saftige Orange habe ich schon lange nicht mehr gegessen!“ Papa seufzte zufrieden. „Das allein ist in der heutigen Zeit schon ein kleines Wunder! Meist sind die Dinger ja eher sauer oder trocken, oder beides!“

Henrietta machte einen Schmollmund. „Ich finde trotzdem nicht, dass die Orange besonders magisch ist. Ich hab gedacht, innen ist vielleicht eine Schneekugel mit Prinzessin, wie sie im Schaufenster vom Kaufhaus steht, oder dass sie wenigstens nach Erdbeeren schmeckt oder so was.“ Fast wollten ihr schon wieder die Tränen kommen. „Die alte Frau hat gesagt, sie ist magisch! Ob sie mich wohl angelogen hat?“

„Was genau hat die Frau denn gesagt?“ hakte Papa nach.

„Dass die Orange magisch ist! Und dass sie mir hilft, wenn ich nicht mehr weiter weiß.“

Papa lächelte: „Aber dann hat die Magie der Orange ja schon gewirkt! Ich denke, ohne sie würdest du immer noch auf der Bank sitzen und nicht wissen, wie du heimkommst. Und irgendwann wärst du dort festgefroren und hättest dich in einen Eiszapfen verwandelt.“

Verblüfft blickte Henrietta hoch. Papa hatte ja recht! Die Orange war doch magisch gewesen! Dann sagte Papa noch: „Und ich bin ganz sicher, dass du dich auch nicht erkälten wirst, denn wer Orangen isst, wird nicht krank! Und so braucht Mama auch nicht zu schimpfen!“

Und genauso kam es dann auch. Und als es endlich, endlich Weihnachten wurde, lag ein rundes, in oranges Papier gewickeltes Päckchen unter dem Weihnachtsbaum, in dem genau die Schneekugel war, die sie sich gewünscht hatte. Und innen schneite es ganz wunderbar, weil Henrietta gar nicht mehr aufhören konnten sie zu schütteln. So hatte die Magie der Orange sogar im Verborgenen noch nachgewirkt.

Ich – Margarete Mayer – bin mittlerweile 55 Jahre alt und lebe seit gut 20 Jahren hier in Thüringen, wo ich als Kunsttherapeutin in der Dr. Becker Burgklinik Stadtlengsfeld tätig bin. Die Liebe zu Gedichten habe ich von meinem Vater vermittelt bekommen und Wort und Text fließen manchmal auch in meine eigenen künstlerischen Arbeiten ein, eher als Wortspiel oder poetischer Akzent. Das Schreiben von Prosatexten habe ich erst kürzlich im Rahmen eines VHS-Kurses bei Katrin McClean aus Eisenach begonnen zu erforschen. Dieser Text ist dabei im Rahmen einer „Hausaufgabe“ mehr oder weniger als Weihnachtsgeschichte entstanden, also jahreszeitlich momentan nicht ganz passend – aber das nächste Weihnachten kommt bestimmt!

Kerstin Göcking-Reichenbach: „Das Haus“

Warm schimmerte das Spätsommerlicht durch die Blätter. Ein Brummen von Insekten lag in der Luft, Vögel riefen und wenn ich tief einatmete, schmeckte ich die Würze von Bäumen und moosbedeckter Erde auf der Zunge.

Ich war ohne Ziel aufgebrochen, hinaus in den Wald. Hier war ich für mich, konnte meinen Gedanken nachhängen.

Breite, weiche Wege führten mich. Wenn ich den Blick hob, war der Himmel nur schwach zu erkennen, Bäume und Laub, grün und braun mit dem Blau verwoben. Spähte ich ins Tal, erahnte ich die Biegungen des kleinen Flusses, der sich durch die Wiesen schlängelte. Gesäumt von Büschen und Bäumen.

Die Beerenzeit war vorüber, Pilze ließ ich heute unbeachtet. Ich wollte gehen und nachdenken, wollte mich nicht auf braune Kappen zwischen braunem Laub konzentrieren.

Der Weg folgte sanften Kurven. Er führte leicht hinauf und ebenso leicht hinab und dann schob es sich in meinem Blick: Ein Haus, unbewohnt und im Verfall begriffen. Es stand schon ewig dort – unten im Tal, inmitten des Nirgendwo. Unerreichbar auf der anderen Seite des Flusses. Keine Brücke führte hinüber, eine Zufahrt war seit Jahren verwachsen.

Seine einst weiß getünchten Mauern leuchteten zwischen den Bäumen hervor. Der Putz war von Runzeln durchzogen, wie das Gesicht einer uralten Frau. Dunkle Fensterhöhlen sahen zu mir herüber.

Einem Filzhut gleich, den die Motten zu zerfressen begannen, saß das löchrige Dach schräg auf dem Haus. Die Dachrinne hing ihm wie ein gelöstes Hutband ins Gesicht.

Ich sah es nicht zum ersten Mal, aber bisher hatte ich es nur zu Kenntnis genommen, so wie es mich nur zur Kenntnis genommen hatte. Ein kurzes Nicken, wenn überhaupt.

Doch nun war da etwas: vielleicht mein Staunen.

Meine Schritte lenkten mich zwischen den Bäumen hinab an den Waldrand, bis das Haus vollkommen eingerahmt von der Sonne aus dem Schatten trat. Warmes Licht durchbrach die Fensterhöhlen - da, wo sie wie Augen strahlten. Selbst aus dieser Entfernung war ein Raum zu erkennen, hell durchflutet. Keine Einzelheiten, nur dass er da war.

Das Haus sah mich an, schien zu überlegen. Vielleicht, ob es mich einladen sollte? Vorsichtig, um es nicht zu verschrecken, trat ich näher – Schritt für Schritt, bis an das Ufer des Flusses. Jetzt könnten wir uns fast unterhalten.

Ratlos spähte ich umher, bis ich im Flussbett Steine entdeckte. Sie ragten aus dem niedrigen Wasser, waren mit Moos bewachsen. Ich vertraute dem Haus. Vorsichtig setzte ich einen Fuß nach dem anderen auf, schwankte, balancierte. Ich wurde das Gefühl nicht los, begleitet zu werden. Wer immer es war, wie lange es auch her war, ich war nicht die erste, die diesen Weg hinüber benutzte. Es dauerte. Das Gesträuch am Ufer auf der anderen Seite wich mit jedem Tritt, den ich näher rückte, beiseite und wies mir schließlich den Weg.

Die Flügeltür, die die früheren Bewohner des Hauses geschätzt haben musste, fehlte. Der verwitterte Holzrahmen erinnerte mich an blasse Lippen und fast war es, als lächelte mich eine alte Dame an. Sie schien sich zu freuen. Ich ahnte, dass sie selten Besuch bekam.

Wir schwiegen beide und schauten, wogen ab, ob wir uns kennenlernen wollten. Trotz ihrer Narben, der dünnen Haare und der fehlenden Zähne ist sie wunderschön. Sie strahlte und so trat ich ein.

Kerstin Göcking-Reichenbach

Schreibmotivation? Eine wirkliche Motivation gibt es nicht, ich liebe es einfach.

Von klein auf träumte ich oft vor mich hin. Während meiner Schulzeit gehörte ich der „AG Junge Poeten“ im Kreis Bad Salzungen an. Dort entstanden erste kleine Geschichten und Gedichte unter Anleitung unseres Kursleiters Harry Gerlach.

Seit 2021 bin ich Mitglied des Literaturkreises in Bad Salzungen, habe Kalender- und Kurzgeschichten zu Anthologien unserer kleinen Gemeinschaft beigesteuert.

Seit 2023 besuche ich verschiedene Kurse über „Kreatives Schreiben. Es erfüllt mich, Ideen zu Papier zu bringen und stetig dazu zu lernen. Besonders gefreut hat mich, dass mein Beitrag für den Federlesen-Wettbewerb 2023 „Antwort auf ein Inserat“ zu den prämierten Texten gehörte

Ulrike Zerbst: „Wundersames Wachstum“

Ein kleiner Schrebergarten für ihre kleine Familie. Wie schön würde es sein, wenn die Kinder über die Wiese tollen, im Sandkasten spielen und später die winzigen Hände in der Regentonne waschen. Gemüse für das Abendessen ernten, Kaffee auf der Terrasse trinken, Freunde zum Grillen einladen.  Große Pläne für die junge Familie. Ob das alles auch zu schaffen war – neben Beruf und Arbeit, Wäsche und Einkauf? „So ein Garten braucht Aufmerksamkeit. Das ist nicht nur auf dem Rasen liegen und den Marienkäfern zuschauen“, hatte der Vereinsvorsitzende bei der Schlüsselübergabe gemahnt. Und das Dach der Laube sei zu reparieren, der Komposthaufen müsse umgesetzt werden, die Beete sind zu bestellen. „Sie müssen jetzt anfangen, sonst wird’s nichts mehr mit der Ernte in dieser Saison.“ Noch gut hatte sie diese Worte im Ohr.

Also auf geht’s zum ersten Gartennachmittag. Wie gut, dass der Vorbesitzer einiges an Geräten dagelassen hatte. Das würde die Kosten über’s Frühjahr in Grenzen halten, schließlich war der Etat der jungen Familie mit Ablöse und Pacht schon schwer belastet.

Ausgerüstet mit Thermoskanne und Keksen, den Bausatz für den Sandkasten im Kofferraum. Das erste Mal das Tor aufschließen, das in die Gartenanlage führt. Sich fühlen wie eine echte Gärtnerin. Erinnerungen an die eigene Kindheit und der Wunsch, dass die Söhne auch Momente erleben, die sie ihr Leben lang in ihren Herzen tragen werden.

Nach drei Stunden Arbeit sieht der Garten aus wie vorher – zwar ist der Rasen gemäht, aber ansonsten wurde nicht viel geschafft. Wie auch, wenn ein kleiner Junge umhertollt, Aufmerksamkeit verlangt und ein Baby im Kinderwagen schläft? So richtig kinderfreundlich ist der Garten noch nicht, der ältere Vorbesitzer hatte keine Enkel.

„Mama, du hast versprochen, dass wir Radieschen machen!“ Mama lächelt. „Das heißt: Radieschen säen“, erklärt sie dem knapp Dreijährigen. „Hol mal die kleine Tüte, sie liegt im Korb.“ Der Dreijährige flitzt los. Inzwischen ist der Rahmen des alten Regals ins Beet gewuchtet. Hier soll ein kleines Hochbeet für die Kinder entstehen, in dem sie das Wachstum der Pflanzen beobachten können. Mit Papas Hilfe wird Erde eingefüllt. „Mehr, Papa, mehr, das reicht noch nicht!“ Der Dreijährige quietscht laut vor Begeisterung. Dann harkt er den Boden glatt – mit seiner kleinen Kinderharke. „Und jetzt ein Foto für’s Familienalbum“, denkt Mama. Aber schon hat der Junge das Tütchen aufgerissen und die ersten Samen kullern auf den Weg. Gerade noch kann Mama den Rest auffangen.

„Sie müssen das aber schon ordentlich machen, sonst wird das nichts!“, dröhnt eine tiefe Männerstimme aus dem Garten gegenüber. „Und außerdem ist noch Mittagsruhe, nämlich bis um 3!“ Die Familie kommt an das Gartentor und möchte sich vorstellen, ist doch schön, wenn man seine Nachbarn kennt. Aber der Gartenbesitzer von gegenüber scheint wenig Interesse an einem Plausch zu haben, er grummelt vor sich hin und gießt seine Setzlinge.

Der Dreijährige piekt mit seinem Zeigerfingerchen kleine Löcher in die Erde und lässt hochkonzentriert Samenkorn um Samenkorn hineinfallen. Das Zudrücken der Saatlöcher überlässt er Mama, denn jetzt kommt der schönste Teil seiner Arbeit – das Gießen! Aus dem Wasserhahn der Regentonne läuft das Wasser in die Kindergießkanne – und auf die Schuhe. „Macht nichts“, seufzt Mama. Die Radieschensamen werden gegossen – sehr gründlich. Auf der Erdoberfläche bildet sich eine Wasserlache. „Genug, sonst wird das kein Hochbeet, sondern ein Aquarium!“, lacht Mama. Der Gartenbesitzer von gegenüber lacht nicht mit. „Ich hab‘ ja gesagt, so wird das nichts!“, ruft er rüber. „Mama, der Mann sieht aus wie Golo, der Gartenzwerg!“, flüstert der Dreijährige. Mama schaut genauer hin. Der Junge hat Recht! Golo ist der Gartenzwerg in der Lieblingsserie der Kinder – die Ähnlichkeit zwischen dem älteren Mann und der Zeichentrickfigur ist unübersehbar. Grüne Latzhose, blaue Gummistiefel, weißer Vollbart. Als ob er für die Figur Modell gestanden hat …

Am Abend geht’s nach Hause. Ein letztes Umdrehen auf dem Weg, der Junge winkt dem Gartenhäuschen zu. „Und morgen kommen wir wieder?“, fragt der Dreijährige. „Und ist dann schon was gewachsen?“ Mama schüttelt den Kopf. Geduld würden die Kinder wohl auch noch lernen müssen.

Am Abend fällt sie müde auf Sofa. Entspannend war der Gartentag nicht. Eigentlich hatten sie nicht mal halb so viel geschafft wie erhofft. Und der Haushalt erwartet auch noch Aufmerksamkeit. War es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen, sich auch noch einen Garten zuzulegen?  Mit diesen Gedanken döst sie auf dem Sofa ein.

Schon früh am Morgen ist der Dreijährige wach. In Gummistiefeln und Schlafanzug steht er an Mamas Bett, bereit zum Aufbruch in den Garten. „Golo hatte gestern auch Gummistiefel an!“, verkündet das Kind.

Nach einem schnellen Frühstück geht es los – Sohnemann war viel zu ungeduldig und außerdem war die Aufgabenliste ja noch lang. Da war es sicherlich gut, früh loszulegen. Heute trägt Papa den Picknickkorb, Mama schiebt den Kinderwagen durch das Gartentor.

Der Dreijährige stürzt auf sein Hochbeet zu. „Mama, Mama, du musst ganz schnell gucken kommen! Die Radieschen sind schon da!“, ruft er so laut, dass es bestimmt alle Laubenpieper in der ganzen Gartenanlage gehört haben. „Hoffentlich beschwert sich nicht gleich wieder jemand“, denkt Mama und stellt den Kinderwagen in den Schatten des alten Apfelbaumes.

Als sie sich neben dem Kinder-Hochbeet hinkniet, sieht sie, was der Dreijährige gesehen hat. Da, wo sie gestern die Radieschensamen gesät haben, schauen heute dicke, runde Radieschen aus der Erde. Auf den grünen Blättern glitzern Tautropfen. „Das ging ja doch ganz schnell, viel schneller, als du gesagt hast. Im Garten muss man gar nicht so lange warten“, erklärt der Dreijährige seiner Mutter und zupft vorsichtig ein Radieschen aus der Erde. „Können wir das gleich essen?“, fragt er. Sprachlos nickt Mama. Und während sie gemeinsam losgehen, um das knallrote Radieschen abzuwaschen, sieht Mama, wie Golo auf der anderen Seite des Zauns herüberwinkt. „Danke“, ruft die junge Mutter über den Gartenzaun. Golo antwortet mit einem Lächeln, das zaghaft durch den Vollbart schein. „Also doch kein Gartengnom“, denkt Mama, sondern eher ein zauberhafter Gartenzwerg.“

So oder zumindest ganz ähnlich fand dieses Ereignis im Leben der Autorin Ulrike Zerbst statt. In Folge dieses „Radieschenwunders“ wuchsen noch viele andere Obst- und Gemüsesorten in ihrem Garten – und einige davon auch nach guter Beratung und mit tatkräftiger Unterstützung durch Golo, ihren Gartennachbarn, der bis ans Ende seiner Gartenliebe diesen Namen behielt.

Bianka Mayr: „Magie des Alltags“

„Komm rein, Lotte. Möchtest du einen warmen Kakao?“ „Oma, ich bin 26.“

 „Na und, mit 26 schmeckt mein Kakao wohl nicht mehr? Mit viel oder wenig Sahne?“ „Mit ganz viel Sahne, Oma.“

Lotte grinst. Ich bereite ihr einen Kakao zu, wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war. Es ist schön, wenn sie mich besucht. Ein bisschen Abwechslung und frischer Wind tun meinem Alltag sehr gut.

„Oma, komm mal bitte!“ Lottes Stimme klingt ernst. „Was ist denn das? Ein Tagebuch? Einzelne Wörter – das ist sonderbar - Oma?!“

„Du bist sehr neugierig, mein Kind. Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, nicht in fremden Tagebüchern zu lesen?“

„Dann hättest du es nicht auf dem Tisch liegen lassen dürfen.“

„Ganz schön spitz, meine Kleine. Wo sind denn Martin und Sophie heute? Hatten sie keine Lust, mich zu besuchen?“ „Martin muss noch arbeiten und holt im Anschluss Sophie aus der KiTa - du hast mich heute also ganz für dich alleine, liebe Oma.“ Wir grinsen uns an und ich weiß genau, dass Lotte nicht eher Ruhe geben wird, bis ich ihr von meinem Tagebuch erzählt habe. Ich hole unsere Tassen und setze mich neben Lotte auf das Sofa. Die Nachmittagssonne scheint in das Zimmer, sodass ich den Staub sehr gut sehen kann, der durch das Hinsetzen aufgewirbelt wird. Die Gardine flattert an der offenen Balkontür hin und her und die frische Luft vermischt sich mit dem Duft von Kakao, einfach schön. „Nun erzähl mal Oma, was hat es mit dem Tagebuch auf sich? Hier zum Beispiel: der 1.3. und 2.3. – nur das Datum, keinerlei Notizen. Der 8.4.: Biene auf Gänseblümchen; Herr Trost hat mir zugelächelt und hier am 6.5.: mit Lotte, Martin und Sophie im Zoo gewesen, lachenden Hans hysterisch lachen gehört – Oma, komm schon, klär mich auf.“

„Na gut, Lotte. Also, wenn man älter wird und sich der Bekannten- und Verwandtenkreis langsam verkleinert, ist man häufig einsam ...“ „Oma!“ „Lotte, lass mich bitte ausreden! So war es auch bei mir. Ich war traurig, habe mich alleine und oft auch sinnlos gefühlt. - Hör mir zu Lotte und sag jetzt bitte mal nichts.“ Lotte schließt ihren Mund, den sie für ihren Einwand bereits geöffnet hatte und wir müssen beide loslachen - aber ich glaube - jetzt haben wir eine Basis gefunden, um uns wie zwei erwachsene Frauen zu unterhalten.

„Du weißt ja, dass hier im Betreuten Wohnen unter anderem Vorträge angeboten werden. Und da gab es den von einer jungen Psychologin. Sie hat genau diese negativen Stimmungen angesprochen und uns als mögliche Hilfe das Glückstagebuch vorgestellt. Man soll jeden Tag zwei, drei Erlebnisse oder glückliche Momente aufschreiben und dadurch rückt der eigene Fokus wieder auf die positiven Sichtweisen und stärkt die positiven Gefühle. Und mit der Zeit geht es einem dann besser. Man ist fröhlicher, zufriedener und glücklicher. Erst dachte ich, was das wohl für ein Unsinn sei. Und ungefähr vier Wochen nach dem Vortrag – ich hatte schon gar nicht mehr an ihn gedacht - hat mir meine Nachbarin Frau Pohl von ihren positiven Veränderungen durch das Glückstagebuch erzählt. Daraufhin bin ich doch neugierig geworden und habe beschlossen, es auszuprobieren.“

Lotte schaut nachdenklich, aber auch interessiert. „Und du führst jetzt seit, warte, sechs Monaten dieses Glückstagebuch. Merkst auch du was?“ Ich lache laut los. „Oh Lotte, entschuldige, dass ich lache. Wenn das nach vier, fünf Wochen bei mir nichts bewirkt hätte, meinst du, ich hätte es so akribisch weitergeführt?“ Lotte schüttelt den Kopf und wir trinken einen großen Schluck von unserem noch warmen Kakao. Die Sahne haben wir schon weggelöffelt. Da kommt Lotte ganz nach mir. „Oma, jetzt beschreibe mir doch bitte, wie und was du da genau machst.“

„Weißt du, zu Beginn – das hast du im Tagebuch gesehen – war das gar nicht so einfach. Mir ist nichts eingefallen, was ich hätte aufschreiben können. Nach ein paar Tagen waren es dann ein und später auch zwei Momente am Tag. Und mit der Zeit lief es immer besser. Im Nachhinein denke ich, dass ich zu diesem Zeitpunkt ziemlich verstimmt war und absolut keinen Blick mehr für das Bezaubernde um mich herum hatte. Von Woche zu Woche ist es mir leichter gefallen, das Schöne in meinem Leben wahrzunehmen und abends aufzuschreiben. Mittlerweile muss ich mich zügeln, dass ich nicht fünf, sechs oder sieben positive Erlebnisse vom Tag aufschreibe.“

„Ein paar konkrete Beispiele bitte, Oma!“

„Wenn ich nach ein paar trüben Tagen die ersten Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht spüre, löst das in mir Glücksgefühle aus. Ich genieße bewusst zwei, drei Minuten, mein Gesicht in der Sonne zu baden. Gehe ich an blühenden Blumen vorbei, schaue ich mir die Zeichnung in der Blüte und ihre Farben genau an und rieche an ihr. Oder neulich war ich im Wald spazieren und habe die außergewöhnlich schön gefärbten Libellen am Teich beobachtet. Wie einzigartig sie während des Fluges tanzten und wie harmonisch das Zusammenspiel zwischen ihnen aussah. Ich kam so ins Träumen, dass ich am liebsten mitgeflogen wäre. Und soll ich dir was sagen? Morgens höre ich wieder bewusst die Vögel zwitschern – schon vor dem Aufstehen. Erst singt das Rotkehlchen, dann die Amsel. Und anschließend ist es ein solches Durcheinander, dass ich einfach einem wunderschönen Vogelstimmenkonzert lausche und mich darüber freue. Jeden Tag Lotte - und ich übertreibe nicht - jeden Tag bin ich begeistert und dankbar darüber, wie vielfältig und wunderschön unsere Flora und Fauna sind.“

„Du schwärmst ja richtig. Also bezieht sich dein Glückstagebuch nur auf die Natur?“

„Lotte, also erstens: das ‚nur‘ habe ich überhört und zweitens: nein. Stell dir vor, ich bemerke wieder, wenn mir ein sympathischer Mann zulächelt oder mir die Tür für mich und meinen Rollator aufhält, dann fühle mich attraktiv und wertvoll. Auch kleine Gesten von Mitmenschen, gute Gespräche in der Straßenbahn oder beim Rommé machen mich glücklich. Ach ja, wenn das Mittagessen schmeckt, freue ich mich darüber, dass unser Koch endlich wieder aus dem Urlaub zurück ist.“ Jetzt lachen wir herzhaft. „Weißt du Lotte, wenn ich deine süße, quirlige Sophie mit ihrer unschuldigen und fröhlichen Art sehe, wird mir bewusst, welch ein Geschenk es ist, sie aufwachsen zu sehen. Eure kleine Familie mit ihren vielen lustigen Momenten, ihren Macken und ...“ „Oma, unseren Macken? Das geht jetzt aber zu weit.“ „Lotte, das gehört doch zum Leben dazu. Ihr wachst an den Herausforderungen, die euch das Leben bietet und durch eure ganzen Erfahrungen, die ihr zusammen macht. Schon mal was von ‚Lebenserfahrung‘ gehört, meine Kleine?“ „Du hast ja recht.“ „Ich weiß.“ „Oma!“ Schallendes Gelächter erfüllt mein Wohnzimmer. Ich nehme Lotte in den Arm, spüre ihre Wärme und weiß, dass ich heute Abend den Besuch von Lotte mit einem fetten Stift in mein Tagebuch eintragen werde. „Oma, langsam verstehe ich das Prinzip. Durch dein Glückstagebuch bist du erneut zum Leben erwacht!“ „Ja mein Kind, das klingt vielleicht komisch, ist aber so. Ich habe wieder gelernt, Kleinigkeiten wertzuschätzen, dankbar zu sein – die Natur nicht als selbstverständlich hinzunehmen – Dinge zu genießen und aufmerksam mit offenen Augen und Ohren durch meinen Alltag zu gehen – und das jeden Tag. Denk immer daran, die Magie des Alltags ist oft unscheinbar und klein.“ „Oma, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“ „Jetzt sag schon, Lotte. Was geht dir durch dein hübsches Köpfchen?“ „Also…, ich wäre genau in diesem Moment glücklich und dankbar zugleich, wenn ich noch einen Kakao kriegen könnte, hihi.“

Bianka Mayr ist 45 Jahre jung, verheiratet und glückliche Mutter eines erwachsenen Sohnes. Im Berufsleben eher an formelle und vorgegebene Textbausteine gebunden, entpuppte sich der Aufruf zum Schreib-wettbewerb im letzten Jahr als willkommene Herausforderung. Und so entdeckte sie ihre Begeisterung für das kreative Schreiben, in das sie ihre täglichen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen und deren Schicksale mit einfließen lassen kann.

Prof. Dr. Burkhard Fuhs: „Gemüsesuppe und Quarkspeise“

Wohin sein Blick auch fiel, alles war verändert und doch merkwürdig vertraut. Der Sohn stellte das Auto auf den Parkplatz vor dem alten Jugendheim ab und ging den fremd-vertrauten Weg am Friedhof vorbei. Wie groß die Bäume geworden waren. Hier lag sein Vater, seit fast dreißig Jahren.

Und seit bald zehn Jahren nahm er nun auch schon diesen Weg in die Wohngruppe. Hatte gute und schlechte Tage gesehen. Zu Beginn hatte er gedacht, drei bis vier Jahre und dann wäre diese Lebensphase vorbei. Aber es war anders gekommen, es hatte sich ein neuer Alltag eingestellt und war zur Gewohnheit geworden.

Der Sohn nahm den schmalen Fußweg zwischen den Reihenhäusern aus rotbraunen Klinkern und trat auf den Kirchplatz. Das grüne Kupferdach der Kirche leuchtete in der Sonne. Es hatte noch einmal geschneit. Der nasse Schnee lag schwer auf den Blumenbeeten und hatte die roten Tulpen zu Boden gedrückt.

An der Stelle des alten Gemeindehauses stand nun schon seit Jahren das zweistöckige Gebäude der Einrichtung. Der Sohn blickte von außen durch die großen Fenster. Die grobe Gardine gab den Blick in den hellen Tagesraum mit seiner offenen Küche und der Kochinsel frei, hinter der die Köchin stand und alles im Blick hatte. In der Mitte zwei große Tischquadrate für je acht Personen. Die Einrichtung hatte vierzehn Bewohnerinnen, aber da einige ihre Betten nicht mehr verließen, waren die Esstische nie vollbesetzt. Seine Mutter saß auf ihrem Stammplatz und las gebeugt in einer Zeitung.

Im Hausflur drückte der Sohn den Schalter, mit dem der stumme Alarm abgeschaltet wurde, und trat zögernd ein. Er sagte laut: „Guten Morgen.“ Keine Reaktion. Nur die Köchin grüßte ihn freundlich über den Herd hinweg. Über allem schwebte eine tiefe Ruhe, die den Sohn schon so oft bedrückt hatte. Die Köchin klapperte mit einem Schneebesen und vertiefte so noch die Stille. Niemand sprach, und niemand schaute irgendjemanden an.

Der Sohn setzte sich neben seine Mutter, die in ihre Zeitung vertieft war und mit dem Finger dem Text folgte. Er berührte sie leicht an der Schulter. „Hallo“, sagte er vorsichtig. „Ach, Berni, wie schön, dass Du da bist“, sagte sie erfreut und schaute auf. „Ich bin nicht Dein Bruder“, sagte er, „ich bin Dein Sohn Franz.“ „Ach, der Franz“, antwortete die Mutter, „das ist ein guter Junge.“ Dann wandte sie sich wieder ihrem Text zu. Die Frau rechts neben ihr blickte stumm vor sich hin, die Frau auf der anderen Seite des Tisches spielte ängstlich mit einer Halskette aus roten und schwarzen Glassteinen. Der Sohn sah sich um. Schon wieder so viele neue Gesichter.

„Du kannst nicht mit jedem mitsterben“, hatte seine Mutter gesagt, damals als sie noch längere Unterhaltungen führen konnte. „Mach Dir keine Sorgen. Wir sind hier alle Eintagsfliegen. Jeder kommt an die Reihe. Keiner wird vergessen!“ Der Sohn hing seinen Gedanken nach. Der Kühlschrank rauschte leise, und der große Kochtopf brummte auf dem Herd. Ein Duft von gebratenen Zwiebeln zog durch den Raum.

„Gleich gibt es was zu essen“, sagte die Mutter. „Was gibt es denn?“, fragte die Frau mit der Kette. Die Mutter schaute auf eine große Tafel, auf der mit Kreide das Datum, der Wochentag und die Speisenfolge zu lesen waren. „Gemüsesuppe“, sagte sie, „und Quarkspeise.“ „Wird man denn davon satt?“, fragte die Frau rechts von der Mutter. „Suppe? Was ist denn da drin?“, fragte die Frau mit der Kette. Der Sohn schaute zur Köchin am Herd. „Ich sehe Kartoffeln und Möhren“, sagte er. „Ein Kartoffeleintopf“, sagte die Mutter. „Da ist bestimmt Fleisch drin“, sagte die Frau rechts von ihr. „Und dann gibt es Pudding“, sagte die Frau mit der Kette. „Da steht aber Quarkspeise“, sagte die Mutter. „Es gibt immer Pudding“, beharrte die Frau mit der Kette. „Ich mag Pudding“, sagte die Frau rechts.

Eine Pause entstand.

„Was gibt es denn heute?“, fragte die Frau mit der Kette wieder. Die Mutter las erneut „Gemüsesuppe und Quarkspeise.“ „Wird man davon satt?“, fragte die Frau rechts. Alle schwiegen. Eine Mitarbeiterin klapperte mit Tellern.

Dann ging die Tür auf, und eine Frau bewegte sich mit ihrem Rollstuhl auf den Tisch zu. Sie zog sich mit den Füßen voran.

„Ich heiße Anneliese“, sagte sie zum Sohn.

„Ich heiße Franz“, sagte der Sohn.

„Dann kennen wir uns ja jetzt und können uns in Zukunft grüßen“, stellte Anneliese fest.

„Soll ich Ihnen Platz machen?“, fragte der Sohn.

„Nicht nötig“, sagte Anneliese, „ich nehme den Platz an der Kopfseite.“ „Was gibt es denn heute?“, fragte Anneliese. „Das weiß ich nicht“, sagte die Frau mit der Kette.

Anneliese las die Speisekarte. „Gemüsesuppe“, sagte sie.

„Und danach gibt es Pudding“, fügte die Frau mit der Kette hinzu.

„Pudding mag ich“, ergänzte die Frau rechts.

„Nee“, sagte Anneliese, „Quark.“

„Quark?“ Die Frau mit der Kette war sichtlich enttäuscht. „Es gibt doch immer Pudding!“

„Die kochen hier sehr gut“, sagte die Mutter.

„Wir können uns nicht beklagen“, sagte die Frau rechts.

„Nein, das können wir nicht“, sagte Anneliese.

Mit einem Mal wurde die Frau mit der Kette wieder nervös, sie zeigte auf ihre rote Strickjacke.

„Ist das meine Jacke?“, fragte sie ängstlich, „damit bin ich doch heute Morgen nicht aus dem Haus gegangen, oder?“

„Sieht aber gut aus, steht Ihnen“, sagte der Sohn.

„Finde ich auch“, sagte Anneliese und platzierte ihre Handtasche auf den Tisch.

Ein unmerkliches Raunen ging durch die Runde. Alle schauten auf Anneliese. Diese öffnete bedächtig ihre Handtasche und stellte ein Salz- und ein Pfeffergläschen vor sich hin. Schließlich griff sie noch einmal in ihre Tasche und zauberte ein Fläschchen mit brauner Gewürzflüssigkeit hervor.

„Heute gibt es Suppe“, sagte Anneliese, „da muss man vorbereitet sein.“ „Oh“, sagte der Sohn. „Ein Gewürzfläschchen. Das kenne ich. Da kommen Bläschen oben raus.“

„Manchmal ja“, sagte Anneliese, „und manchmal nein.“

„Schüttle es doch mal“, sagte die Mutter. „Genau“, bestärkte die Frau rechts.

„Ja, Sie müssen schütteln“, sagte die Frau mit der Kette.

Anneliese schüttelte das braune Fläschchen vorsichtig. Als sie die Kappe öffnete, erschien ein kleines Bläschen auf der Spitze.

„Es wird immer größer“, staunte die Frau rechts.

In der Tat wuchs die kleine Blase auf der Spitze der Gewürzflasche weiter an. Dann zerplatzte sie. „Hui“, sagte die Mutter, „jetzt ist sie weg.“ Doch schon bildete sich eine neue Blase auf dem kleinen Fläschchen. „Da ist noch eine!“ Die Frau mit der Kette beugte sich vor, um besser zu sehen.

„Und wieder weg“, sagte die Mutter.

So verfolgte die kleine Gruppe am Tisch gespannt das Geschehen auf dem Gewürzfläschchen. Bläschen kamen hoch, wuchsen und zerplatzten.

 „Das sieht lustig aus“, sagte Anneliese.

Und dann war Schluss. „Nochmal, nochmal“, sagte die Frau rechts, und Anneliese schüttelte wieder.

Dann kam eine Pflegekraft an den Tisch. „So, jetzt geht es los, meine Damen. Mittagessen.“ Der Sohn stand auf, um nicht zu stören. So war das hier üblich.

Anneliese rückte das Gewürzfläschchen in die Mitte des Tisches.

„Wollt Ihr auch was davon haben?“, bot sie an.

Zwei Mitarbeiterinnen brachten volle Teller mit dampfender Gemüsesuppe. Anneliese würzte mit Salz, Pfeffer und der braunen Gewürzflüssigkeit kräftig nach. Auch die anderen am Tisch griffen zum Gewürzfläschchen. „Das ist eine vertraute Geste“, dachte der Sohn, als er den Raum verließ. Und als er sich noch einmal umschaute, schien es ihm, als ob in diesem Augenblick ein kleines Lächeln wie ein funkelnder winziger Lichtschein um den Tisch huschte.

Prof. Dr. Burkhard Fuhs: Geboren 1956 im Münsterland, Kultur- und Kindheitsforscher. Lebt seit 25 Jahren sehr gerne mit Ehefrau in Erfurt. Neben vielen Texten zum Wandel von Alltag, Biografie und Lebenswelt, 2019 ein Text für Kinder und Erwachsene „Zwergpudelin Lilly. Geschichten einer Polizeihündin“.

Mein Text basiert auf vielen Jahren Erfahrung aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, als Pädagoge und Angehöriger, und stellt einen Versuch, die Beobachtung und die Bewohnerinnen und Bewohner in den Mittelpunkt zu stellen.

Friederike Franz: „Begegnung“

Gustav legte den in Papier gewickelten Blumenstrauß aus Pfingstrosen, Freesien, Margeriten und Ranunkeln neben sich auf den Sitz der Straßenbahn. Er mochte es nicht, wenn Fremde ihm zu nahekamen und erst recht nicht, wenn sie jemanden zum Plaudern suchten.

Gitta war da ganz anders gewesen. Ihr Naturell war so offenherzig erschienen, dass Menschen sie angesprochen hatten, um ihr ihre Erlebnisse und Gedanken mitzuteilen. Und Gitta hatte sie mit Gustav geteilt. „Stell dir vor, heute habe ich eine Frau beim Konditor getroffen, die über eine Fernsehsendung ihre Halbschwester kennengelernt hat.“ Oder: „Der Vater unserer Nachbarin hat mit 80 Jahren ein Feinschmecker-Restaurant eröffnet.“

Oder: „Heute haben mir Studenten, die dabei waren einen Ameisenstaat umzusiedeln, erklärt, wie wichtig es ist, keine Ameise zurückzulassen, keine einzige.“

Gustav hatte Gittas Neigung, mit jedem ins Gespräch zu kommen und jeden Artikel der Tageszeitung aufmerksam zu studieren, für Neugier gehalten. Aber Gitta hatte gemeint, das wäre ihr Interesse an den Menschen und an ihrer Heimat. Die Blumen waren für Gitta. Seit Gustav sie vor 68 Jahren zum ersten Mal zur Tanzstunde abgeholt und ihr einen Strauß aus Astern überreicht hatte, hatte er es nie versäumt, ihr regelmäßig Blumen zu schenken. Er würde es auch nie versäumen, sich morgens ein frisches Hemd anzuziehen und, seit Gitta nicht mehr zuhause wohnte, die Artikel für sie aus ihrer geliebten Tageszeitung auszuschneiden. Dafür kaufte er täglich eine zweite dazu. Er öffnete seine Aktentasche und prüfte, ob er die Urkundenmappe, in der er sie aufbewahrte, eingesteckt hatte.

An der nächsten Haltestelle setzte sich eine Frau auf den Sitz ihm gegenüber. Obwohl sich ihre Beine nicht berührten, zog Gustav die seinen ein Stück zurück.

Zuerst glaubte Gustav, der Geruch käme von draußen, die oberen Fenster der Bahn standen einen Spalt offen. Doch er blieb, obwohl die Straßenbahn sich von einem schwelenden Abfallbehälter längst entfernt haben musste. Gustavs Sehkraft hatte nachgelassen, so dass er eine Brille trug, und sein Gehör erkannte für ihn bedauerlicherweise auch nicht mehr die feinen Nuancen verschiedener Einspielungen von Bach, Bruckner oder Brahms, aber seine Nase funktionierte erstaunlich gut. Und dieser leichte Geruch nach Verschmortem, den er trotz des intensiven Dufts der Freesien wahrnahm, rührte von der Frau her, die ihm gegenübersaß. Er musterte sie. Sie war jung, ihr Haar schulterlang. Einige Strähnen klebten an der Stirn, auf der sich Schweißtropfen gebildet hatten. Ihr ärmelloses T-Shirt wies mehrere kleine Löcher mit braunen bis schwarzen Rändern auf, typisch für Brandlöcher. Und er entdeckte Kirschen darauf, jene Zwillingspaare, die sich die Mädchen früher als Ohrringe über die Ohren gehangen hatten. Ob sie es heute noch tun? Die junge Frau schaute ihn an. Verlegen drehte er den Kopf zum Fenster. Er gehörte nicht zu der Sorte Männer, die Frauen und insbesondere deren Busen anstarrte. Der warme Fahrtwind vertrieb weder die Hitze noch den Geruch aus dem Abteil. Verstohlen wandte sich Gustav der Frau wieder zu. Auf ihrem Schoß, fest von ihren Händen umklammert, hielt sie eine Dose. Und plötzlich erkannte er die braune Windmühle auf dem orangefarbenen Grund und die goldgelben Kekse, die, wie olympische Ringe ineinander verschlungen, die Seiten verzierten.

„Die gibt es noch?“, fragte Gustav und erschrak über seine laute Stimme. Er deutete auf die Dose. „Diese Kekse, die Mühlentaler. Meine Frau hat die früher so gern gegessen. Ich wusste gar nicht, dass es die noch gibt.“

„Ach so, nein“, erwiderte die junge Frau, „das ist nur die Blechbüchse. Die habe ich von meinen Eltern.“

Wie zum Beweis hob sie den Deckel ab und Gustav blickte auf Blätter, Moose, Äste, Zapfen und die Feder eines Eichelhähers.

„Kommen Sie aus dem Wald?“

Sie nickte und strich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Dabei bemerkte er, dass die Innenseite ihres Armes rußverschmiert war.

Sie schwiegen.

„Wussten Sie, dass Ameisen, wenn sie umgesiedelt werden, ihre zurückgelassenen Artgenossen abholen?“, fragte Gustav.

„Ja.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

An der nächsten Haltestelle musste Gustav aussteigen. Er nahm seine Tasche in die eine, die Blumen in die andere Hand.

„Die schenke ich Ihnen“, sagte er und streckte sie ihr entgegen. Überrascht ließ die junge Frau die Dose los. „Aber“

„Meine Frau hat bestimmt nichts dagegen“, unterbrach er sie.

Gustav ging eilig zur Tür der Straßenbahn und stieg aus.

Er passierte das schmiedeeiserne Tor. Auf dem Weg zu Gitta unter alten Buchen und dunklen Eiben entlang grüßte er den Friedhofsgärtner, der Grünabfälle in einer Schubkarre transportierte. Die Blumen, die Gustav gestern mitgebracht hatte, waren kein bisschen welk. Er nahm sie aus der Steckvase und füllte Wasser nach. Dann setzte er sich auf die Bank gegenüber, öffnete die Aktentasche und las einen Zeitungsartikel nach dem anderen laut vor. Hitze lässt Waldbrandgefahr steigen. Mann entdeckt unerwartet einen Schatz im Garten. Nach einer halben Stunde, sein Mund fühlte sich ausgetrocknet an, stand er auf, legte seine Tasche neben das Grab und kniete sich darauf. Er griff nach der Blechdose zwischen dem Steinkraut, betrachtete die blasse Mühle auf dem orangefahlen Deckel, öffnete ihn und tauschte die alten Artikel gegen die aktuellen.

„Stell dir vor“, sagte Gustav, „ich habe heute eine junge Frau getroffen, die hatte eine Dose der Mühlentaler Butterkekse bei sich. Und die leuchtete noch. Wie neu. Aber Kekse waren nicht da drin. … Was sich darin befand? Blätter, Kieferzapfen, Vogelfedern. Ja, Studentin, das habe ich auch gedacht. Und sie wusste über die Ameisen Bescheid. Woher ich das weiß? Ich habe mich mit ihr unterhalten, ja, ein wenig geplaudert.“

Die Brandlöcher erwähnte er lieber nicht, sie hätten nur Gittas Neugier erregt und er wollte nicht mit zuckenden Schultern dastehen.

„Und“, fügte Gustav hinzu, „sie hatte ein T-Shirt an, mit Kirschen bedruckt, solche, die du als Ohrringe getragen hast, als ich dich zum ersten Mal geküsst habe.“

Friederike Franz, 1969 in Rostock geboren und aufgewachsen, studierte Germanistik, Slawistik und Deutsch als Fremdsprache in Erfurt und Jena. Sie lebt in Erfurt und ist dort als Berufsberaterin tätig. Im Schreiben entdeckte sie ihre eigene Berufung. Seit ihrer Jugend hält sie Gedanken, Gefühle und Ereignisse im Tagebuch fest. Sie schreibt Kurzgeschichten, Märchen und an einem Roman.

„Mir gefällt es, mich in Figuren hineinzudenken und einzufühlen, mit ihnen Abenteuer zu erleben und die Welt neu zu erfahren.“