Markus Vinzent: Dass ein Wort nicht nur ein Wort ist ...
Dass ein Wort nicht nur ein Wort ist ...
Dass ein Wort nicht nur ein Wort ist, hat einer der in der Welt berühmtesten (zumindest außerhalb Erfurts) Professoren von Erfurt dargelegt: Thomas von Erfurt. Auch wenn wir seine genauen Lebensdaten nicht kennen, so wissen wir doch, dass er zum Ausgang des 13. und Beginn des 14. Jahrhunderts Hochschullehrer an einem der Kollegien, wohl der Schule des Schottenklosters unterrichtete und sicherlich mit dem anderen weltberühmten Erfurter Zeitgenossen, Meister Eckhart und seinem Werk bekannt war. Umgekehrt wissen wir auch, dass Meister Eckhart Wesentliches von Thomas gelernt hatte.
Was hat Thomas berühmt gemacht? Thomas war Philosoph, philosophischer Grammatiker – und er hatte das Wort auf die Goldwaage zu legen gelehrt. Ein Wort, das war sein zentraler Gedanke, ist nicht nur ein Wort. Es ist mehr Wert, hat mehr Gewicht und besitzt mehr Inhalt als alles Gold der Welt. Denn das Wort ist vielfältig, es multipliziert sich gerade zu selbst. Während Gold, wenn es in Schmuck, als Geld, als Sicherheit verteilt wird, abnimmt oder zumindest dem täglichen Marktkurs und seinen Schwankungen ausgesetzt ist, steigert sich jedes Wort selbst. Denn es kann mit sich selbst oder mit einem anderen Wort zusammentreten und sich so selbst einen neuen Sinn geben. Aus „Ja“ wird „jaja“, und schon ist „Ja“ nicht mehr „Ja“, sondern fast das Gegenteil von „Ja“, nämlich „jaja“, na gut, vielleicht auch nicht. Die Bank am Markt kann ein Finanzgebäude sein, doch auch das Bett des Obdachlosen. Oder: Ich bin in Erfurt zuhause, ich bin in Erfurt zuhause, ich bin in Erfurt zuhause – derselbe Satz hat drei komplett verschiedene Bedeutungen. Der erste (ich bin in Erfurt zuhause) meint z.B., ich bin in Erfurt nicht mehr fremd, ich habe mich hier richtig eingelebt. Der zweite (ich bin in Erfurt zuhause) meint z.B., dass ich mich in Erfurt, aber nicht in Weimar, Leipzig oder sonst wo, wo ich mich auch noch aufhalte, zuhause weiß. Und der dritte (ich bin in Erfurt zuhause) deutet an, dass ich mich hier in Erfurt ganz als Mensch fühle, angenommen, dass ich das bin, was ich sein will.
Dass es solche Sprachnuancen eines Wortes, und erst recht eines Wortes im Verbund mit anderen Worten gibt, und dass ein Wort nicht nur ein Wort, sondern vielmehr ein Zeichen ist, das ganz reich und vielfältig ist, das erst gedeutet werden muss, ja das man auf die Goldwaage legen und erst lesen lernen muss, das hat Thomas von Erfurt in einem Buch, um 1309, niedergeschrieben, das bald „Spekulative Grammatik“ genannt wurde. Es war ein Bestseller des ausgehenden Mittelalters, aber es blieb auch weltweit die meistgelesene philosophische Grammatik bis ins 20. Jahrhundert. Auch wenn bald der Name des Verfassers vergessen war (er wurde erst am Anfang des 20. Jh.s wieder entdeckt), dieses Buch hatte damals und hat heute immer noch enormen Einfluss auf unser Verständnis von Worten. Auf dieses Buch berief sich der berühmte Philosoph der Zeichenlehre (Semiotik), Charles S. Peirce (1839-1914), und es bildete die Grundlage für den wohl bedeutendsten deutschen Philosophen des 20. Jh.s, Martin Heidegger (1889-1976). Gibt es bald eine Straße in Erfurt mit dem Namen „Thomas von Erfurt“? „Ja“ oder „jaja“?
Prof. Dr. Markus Vinzent
Fellow der Kolleg-Forschergruppe
Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien
Universität Erfurt