The Gasping Society: Ulrike Theusner. Zeichnungen und Druckgrafik
Ungestüme Phantasie und kulturkritisches Engagement als Künstlerin
In den immer wieder gesuchten künstlerischen Dialogen mit klassischer wie moderner Literatur (wie T.S. Eliots The Waste Land von 1922) und Kunst (wie William Hogarths A Rake's Progress von 1735) zeigt sich ihre ungestüme Phantasie, aber ebenso ihr kulturkritisches Engagement als Künstlerin. Hogarth ging es in seinen modern moral subjects um die Darstellung des durch soziale und ökonomische Pressuren deformierten menschlichen Subjekts, das wiederum andere Menschen deformiert, sprich: um menschliche Abgründe, die durch negative gesellschaftliche Konstellationen induziert und verschärft werden.
Ulrike Theusner imaginiert den Typus des Hogarthschen Wüstlings zwar in prall-barocker Pracht, sieht in ihm aber offensichtlich auch einen Zeitgenossen. Das vermeintlich lustige, fröhliche Treiben ihrer Figuren und Figurengruppen offenbart Morbides und Endzeitliches, schließt physiognomische Zuspitzungen und veristische Überzeichnungen ein und kann als indirekte Form von Zeitkritik verstanden werden.
Die Charaktere verkörpern auf jeweils verschiedene Weise den Zeitgeist
In ihrer neuesten, zwischen 2015 und 2016 entstandenen Serie Gasping Society, bestehend aus 96 Tuschezeichnungen und einer Mappe mit 16 kolorierten Kaltnadelradierungen, geht sie direkter vor. Ausgangspunkt ist ihr persönliches Erleben in den Großstädten, vor allem Berlin, mit Freundinnen und Freunden, die sie aus der Mode- und Künstlerszene kennt. Zugleich stehen diese Menschen für bestimmte Charaktere und verkörpern auf jeweils verschiedene Weise den Zeitgeist.
Ulrike Theusner zeichnet bunte Vögel, Sonderlinge oder moderne Romantiker
Sie geben sich partyfest und körperbetont, sind als moderne Nomaden global unterwegs und experimentieren mit unterschiedlichen Identitäten – moderne Stutzer, die dem Exhibitionismus der sozialen Netzwerke ebenso frönen wie den Partydrogen. Ulrike Theusner zeichnet sie als bunte Vögel und Sonderlinge, moderne Romantiker, soziale Rollenspieler oder in statusbetonter Statuarik, stets selbstbezogen und beziehungsuntauglich, leidend an grassierender Unverbindlichkeit und deshalb existenziell gefährdet. Die Porträts ihrer neuen Serie sind individuell und verkörpern zugleich soziale Typen – darin den fotografischen Porträts nahe, die August Sander in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts schuf und 1929 programmatisch unter dem Titel Antlitz der Zeit veröffentlichte.
In diesem Sinne könnte man in der Serie Gasping Society eine moderne Antwort auf Sanders Opus magnum sehen: Menschen des 21. Jahrhunderts. Dazu treten Figuren, die symbolisch für den aktuellen, neoliberalen Way of life stehen, das allgemeine Fressen und Gefressen-werden auf dem Weg zum Platz an der Sonne oder zu den fünfzehn Minuten Berühmtheit, die Andy Warhol jedem von uns zubilligte.
So spontan entstanden die Zeichnungen von Ulrike Theusner auch wirken, sie offenbaren ihr Gespür für subjektive Befindlichkeiten, ihren Blick für soziale Differenzen und den rasanten Wertewandel in den zwischenmenschlichen Verhältnissen – und ihre Intention, diese Welt, die aus der Balance gekippt scheint, mit einer gleichsam veristischen Intensität zu porträtieren.